Psychotherapeuten im Visier
seinem Patienten verliert, wer Distanz für heilbringender hält als gelebte Nähe, muss sich fragen lassen, ob er für den Beruf des Therapeuten taugt. Nähe heißt nicht Vertrautheit, Nähe bedeutet Empathie. Wann besinnen sich die Kalten unter den Therapeuten endlich auf diese Lebensregel? Nichts anderes bedeutet der Begriff »Psychologie«.
Vergangenheitsbewältigung: Warum eigentlich?
Auf allen psychotherapeutischen Schulen lastet der Nimbus, dass das Grundübel jeder Depression in den bösen Selbsterfahrungen bereits im Mutterleib oder spätestens in den ersten Lebensjahren liegen könnte – bei manchen dauern diese »ersten Jahre« dann bis ins dritte Lebensjahrzehnt, wenn sie sich mit 18 für eine Therapie entschieden haben. Dieser Satz ist kein Zeugnis von Zynismus, sondern das einschätzende Ergebnis nach vielen Gesprächen mit Menschen, die sich von einer Psychotherapie Wunder versprochen haben und noch immer versprechen. Manche von ihnen verharren über Jahre in der dürftigen Erkenntnisstarre einer Psychoanalyse, andere versuchen in der analytisch fundierten Gesprächstherapie auf den Grund ihrer Depression zu kommen – oft in der Hoffnung, dass es da im familiären Umfeld irgendjemanden gegeben haben mag, der für all das Elend der eigenen Seele verantwortlich gemacht werden kann.
Und wenn alles ganz anders ist? Wenn die Depression – eine schreckliche Krankheit, die große Schmerzen verursacht und immer wieder Menschen in den Tod treibt, so wie auch ich diesen gefährlichen Sog verspürt habe – nun aber ganz andere Ursachen hat, wie sich so langsam abzuzeichnen, besser anzudeuten scheint? Dann wären mit einem Schlag, also nach einem ganz neuen Ursachennachweis der Depression sämtliche Therapeuten aller Schulen in einer misslichen Lage und müssten sich für die Behandlung von Flugangst umschulen lassen. Aber so weit sind wir noch nicht, aber immerhin ist schon ein findiger und reicher Investor mit viel Risikokapital in die Entwicklung revolutionär neuer Medikamente eingestiegen. Solche Leute haben häufig ein sehr viel feineres Gespür für Behandlungstrends als manch ein eindimensional ausgerichteter Vertreter einer obskuren Therapieschule. Woher diese Scharlatane noch immer ihren Zulauf beziehen, bleibt für mich rätselhaft. Selbst wenn bei einer drug-enhancten Gruppentherapie zwei der Teilnehmer sterben, ist damit noch immer nicht das bundesweite Ende einer solchen Therapie gesichert.
Ich selbst habe, obwohl Altachtundsechziger, keine Erfahrung mit Drogen, habe aber immer wieder gehört, dass sie zwar bewusstseinsverändernd wirken, aber ganz sicher nicht zielorientiert gegen seelisches Leid eingesetzt werden sollten. Das gilt übrigens auch für Alkohol oder jede andere Form von Selbsttherapie. Selbsttherapie ist etwas für Leute, die sich interessant machen wollen, aber nicht wirklich krank sind. Diese Vermutung liegt übrigens auch bei vielen nahe, die sich einer Psychoanalyse unterziehen, um herauszubekommen, wer sie sind oder gar warum sie so geworden sind, wie sie sind. Oder wie sie vielleicht eines Tages sein werden. Man kann sich übrigens auch mit Kreuzworträtseln
der Langeweile entziehen. Es ist vor allem sehr viel preiswerter.
Der Nimbus – lateinisch: dunkle Wolke –, dass am Anfang der Depressionsbehandlung zuerst einmal die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit stehen muss, hält sich hartnäckig wie kreisende Gewitter, die nicht zur Ruhe kommen. Wenn ich auf meine eigene Therapie zurückschaue, dann war ein Großteil der Zeit darauf gerichtet herauszufinden, ob es zwischen meiner massiven und über Jahre anhaltenden Depression und irgendwelchen Ereignissen in der Vergangenheit einen Zusammenhang geben könnte. Mit ein wenig Fantasie lässt sich auch zwischen Feuer und Wasser ein Zusammenhang herstellen, und ist nicht die Polarität der beiden Elemente die perfekte intellektuelle Bühne für jedwede Assoziation?
Über den Zusammenhang von Trauma – griechisch: Wunde – und Depression gibt es viele Spekulationen, aber keinen gesicherten Nachweis. Natürlich verbinden wir mit Wunden Erinnerungen. Eine davon sucht mich immer wieder einmal heim: Als ich 15 war, wurde ich am Blinddarm operiert. Die Narkose erfolgte über einen mit Äther getränkten Wattebausch. Es gab ein unangenehmes Brennen in der Luftröhre und ich hörte noch immer die Stimme des Operateurs: So, wir können anfangen. Und dabei hatte die Narkose bei mir doch ganz offensichtlich noch gar nicht
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