Pubertät – Loslassen und Haltgeben
viele Gäste und Einladungen, Ansehen im Ort. Und den Kindern geht es prächtig, aber da sind diese Zweifel, diese Sorgen.»
«Welche Sorgen?», will ich wissen.
«Die Sorge, was kommt jetzt! Was bringt die Zukunft! Ich hab meinen Beruf aufgegeben, war Dolmetscherin. Es gab für mich nur die Kinder, die Erziehung. Da lagen auch meine Fähigkeiten. Ich glaube, ich habe meine Aufgabe gut gemacht. Aber nun sind sie groß, nun gehen sie!»
«Wenn Sie Yvonne aus Ihren Händen lassen, was sehen Sie dann in Ihren Händen?», frage ich sie.
Sie blickt auf ihre schlanken Hände und sagt nachdenklich: «Da ist nichts mehr drin. Das macht Angst!»
Yvonne, die bei diesem Beratungsgespräch anwesend ist, lacht ihre Mutter an, meint dann mit ernster Stimme: «Ich hab dir immer gesagt, mach was. Du hast so viele Ideen und Interessen!»
«Yvonne, das ging nicht. Ich musste für euch da sein. Ihr solltet es gut haben. Da wollte ich nichts auf mir sitzenlassen!»
Yvonne verzieht ihr Gesicht: «Soll ich dich jetzt anbeten?»
«Yvonne, das verbitte ich mir!» Und zu mir gewandt: «Sehen Sie, so geht’s häufig. Es fängt harmlos an, und dann eskaliert die Situation.» Sie wirkt ein bisschen fassungslos. «So ist es immer. Was hab ich nur falsch gemacht?»
Yvonne greift nach der Hand ihrer Mutter: «Du machst vieles richtig. Aber», sie räuspert sich, «ich bin nicht dein Ein und Alles. Ich bin Yvonne, und du bist meine Mutter. Aber du sollst doch nicht nur meine Mutter sein!»
«Was soll denn das schon wieder heißen?» Frau Schröters Stimme klingt unsicher, aber eine gewisse Empörung ist unüberhörbar.
«Was meinst du, warum Papa so viel arbeitet?», beharrt Yvonne. Sie wartet die Antwort ihrer Mutter auf diese Frage gar nicht ab: «Weil er dein ständiges Gerede über Sorgen wegen der Kinder, über mich nicht hören kann. Der will auch mal was anderes hören!»
Frau Schröter ist sprachlos.
Elterliche Selbstaufopferung ist keine Tugend, sie wird von manchen Heranwachsenden, wie von Yvonne, als Nötigung, als gefühlsmäßiges Unter-Druck-Setzen empfunden. Kinder spüren, wenn man sie als Mittel zum Zweck missbraucht. Oder anders ausgedrückt: Nur wenn es Eltern gutgeht, geht es den Kindern gut. Dann gehen sie gern aus dem Haus. Und sie kommen gern zurück, um sich Rat zu holen.
Heranwachsende akzeptieren es, wenn Eltern für ihr eigenes Wohlbefinden sorgen, wenn sie ein Recht auf Intimität einfordern und Zeit für sich einklagen. Dann brauchen sich Söhne und Töchter nicht für die Eltern verantwortlich zu fühlen. Wenn sich Eltern nur als Eltern sehen, haben es Kinder schwer, ihre Beziehung zu Vater und Mutter auf eine veränderte Basis zu stellen.
«Haben Sie eine Idee, wie Sie Ihre leeren Hände füllen können?», frage ich Sabine Schröter. Sie zuckt ratlos mit den Schultern.
«Wollen Sie sie überhaupt füllen? Oder sollen sie leer bleiben?» Wieder ein Schulterzucken. Ich lege ihr nahe, darüber nachzudenken, ob sie ein Ziel anpacken möchte. In der nächsten Beratungsstunde berichtet sie, sie habe gemeinsam mit ihrem Mann über die Frage diskutiert. Es sei ein «tolles Gespräch» gewesen. Und sie hätten sich etwas ausgedacht. Sie würde, weil sie mehrere Sprachen fließend spricht, nun fremdsprachige Stadtführungen machen, «aber nicht unentgeltlich, ich bin etwas wert!». Ein halbes Jahr später arbeitet Sabine Schröter als Stadtführerin und schreibt an einem Buch über ihr Stadtviertel, und Yvonne steht kurz vor dem Auszug.
Für Marie Weber kam der Auszug der Kinder äußerst abrupt: Ihr ältester Sohn, Tom, zog mit 19 Jahren aus, seine Schwester, Tanja, ein Jahr darauf. «Es entstand ein Loch. Ich bin immer noch in die Kinderzimmer gelaufen. Hab da rumgeschaut, mich hingesetzt und mich an früher erinnert. Wenn ich die Bilder an den Wänden sah, habe ich daran gedacht, wie schön es war. Ich hab mich richtig in Selbstmitleid geflüchtet.» Marie Weber lebte zunächst so, als ob die Kinder im Haus wohnen würden. Sie veränderte nichts – weder ihren Tagesablauf noch die Aufteilung der Wohnung. Die ausgezogenen Kinder besuchten hin und wieder das elterliche Haus, «und alles war wie früher! Einfach schön! Aber ich war traurig, wenn sie dann wieder gingen!»
Marie Weber hatte nicht wirklich Abschied genommen. Ich machte ihr deshalb einen Vorschlag. «Haben Sie ein Frauenzimmer?», fragte ich sie. «Wie bitte?» Sie klingt einigermaßen irritiert. «Ein Zimmer nur für Sie!» Sie
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