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Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Titel: Pubertät – Loslassen und Haltgeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Uwe Rogge
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    Hier fällt auf, wie unterschiedlich die Begriffe Grenze und Regel gedeutet werden:
Pubertierende besetzen diese Begriffe nur dann negativ, wenn sie mit Einengung, Bevormundung, mit Macht und Willkür einhergehen. Stehen diese Begriffe dagegen für Orientierung, für Halt und Auseinandersetzung, dann werden sie von Heranwachsenden positiv bewertet. Jugendliche wollen wissen, woran sie sind, was sie können, wie sie sich sozial angemessen zu verhalten haben – und dies erfahren sie, wenn sie sich an Grenzen reiben können. Grenzen sind aus der Sicht von Heranwachsenden umso akzeptabler, je weniger diese unverrückbar-sture Markierungen sind, vielmehr in Abhängigkeit von Entwicklungsphasen verändert werden. Enggesteckte Grenzen entmutigen, sie lassen keinen Raum für Eigenverantwortung. Zu weit gezogene Grenzen führen dagegen zu Orientierungslosigkeit.
Bei vielen Eltern überwiegt ebenfalls die negative Besetzung der Begriffe Grenze und Regel, die mit Strafe, Ermahnung,Verbot und Versagung gleichgesetzt werden. Dahinter steckt häufig – ich hatte es im Zusammenhang mit dem Perfektionismus betont – eine unzureichende Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Da manche Eltern in ihrer Kindheit Grenzen als schwerwiegende Beschneidung der eigenen Persönlichkeit und bei Grenzverletzungen schmerzhafte Züchtigungen erlebt haben, verzichten viele nun darauf, klare Grenzen zu setzen. Sie empfinden partnerschaftliche Erziehung und das Setzen von Grenzen als Widerspruch – eine Haltung mit paradoxen Folgen: Während Eltern auf Grenzen und Regeln verzichten, suchen Heranwachsende sehr intensiv nach festen Orientierungspunkten. Und je intensiver sich Pubertierende Halt wünschen, umso häufiger verstecken sich viele Erziehende hinter hehren Worten und langatmigen Erklärungen. Ein endloser Wortschwall endet dann, wenn man nicht auf Zustimmung trifft, in impulsiver Schreierei, beleidigtem Schweigen oder einem verbalen bzw. körperlichen Bestrafungsfeldzug. Die berühmt-berüchtigte lange Leine schlägt um in Rücksichtslosigkeit, Verwünschung und Liebesentzug.
     
    Bedenken Sie: Wer mit Heranwachsenden zu tun hat – egal, ob beruflich oder in der Familie   –, der hat es ständig mit zwei Kindern zu tun: dem Kind (oder den Kindern) vor mir und dem Kind in mir. Und wenn das Kind in mir unreflektiert weiterwirkt, ich die Schmerzen, die Trauer und die Ängste, die mir als Kind zugefügt wurden, an dem Kind vor mir wiedergutmachen will, gebe ich – bewusst oder unbewusst – meine Ängste und Unsicherheiten weiter. Gefühle von Schmerz und Trauer, von Verzweiflung und Wut sind nicht über Stellvertreter, sondern nur in der eigenen Person zu bewältigen. Je mehr man die eigene Kindheit – und das sind ja niemals nur negative Gefühle, Niederlagen und Verzweiflungen, dazu gehören auch Freude, Glück undSehnsucht – annehmen, in der ganzen Breite akzeptieren kann, umso eher kann ich sowohl das Kind vor mir als auch in mir und damit mich selbst als ganze Person annehmen.
    Wer Grenzen setzt, macht sich bei Heranwachsenden nicht unbedingt beliebt. Er riskiert Streit, Wut und Zorn. Und da in vielen Bereichen des pädagogischen Handelns die irrationale Annahme vorherrscht, von allen geliebt und anerkannt zu werden, zögern viele Eltern, Grenzen zu setzen. Hinzu kommt: Wer Grenzen setzt, muss über Konsequenzen bei Grenzverletzungen und bei Regelverstößen nachdenken. Das ist anstrengend, erfordert Mut. Denn es setzt voraus, sich auseinanderzusetzen – und dies im ganz wörtlichen Sinn. Wer nur Nähe erträgt, sich eben nicht auseinandersetzt, ist unfähig, sich abzunabeln und abzugrenzen. Ich habe den Eindruck, als ob Symbiose und grenzenlose Harmonie mit Liebe und Einfühlungsvermögen verwechselt werden. Doch während Liebe und Empathie Nähe und Distanz, Eigenständigkeit und Eigenart, mithin Grenzen – die zwischen Ich und Du – akzeptieren, macht die symbiotische und grenzenlose Liebe krank, sie erdrückt und macht abhängig.
    Grenzen zu setzen bedeutet, Heranwachsende zu lassen und loszulassen, ihnen Mut zu machen, eigene Wege zu finden. Das geht nicht ohne Schrammen und Schmerzen. Wer Heranwachsende vor der Realität schützen will, macht sie in der Regel lebensuntüchtig. Schwierigkeiten tauchen dann auf, wenn Heranwachsende zum Partnerersatz werden, wenn sie dazu herhalten müssen, ihren Eltern Lebenssinn zu stiften. Oder wenn sie in einem Familienklima der emotionalen Leere dazu missbraucht

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