Pubertät – Loslassen und Haltgeben
zehn», wiederholt der Vater.
«Jonas, dein Vater ist so pedantisch wie seine Mutter!» Mitdiesen Worten verlässt sie wütend den Raum. Jonas wechselt die Strategie.
«Und was ist, wenn ich nicht um zehn zu Hause bin?»
«Dann gibt’s beim übernächsten Mal discofrei», antwortet der Vater spontan. Jonas lächelt, als ob er ihn verstanden hat.
Am kommenden Freitag geht er in die Disco, verlässt mit den Worten «Bis um zehn!» das Haus. Eine Minute vor zehn kommt er zurück.
Jahre später: Jonas ist mittlerweile 25, es entspinnt sich beim Mittagessen ein Gespräch über Erziehung. Vater und Sohn tauschen Erfahrungen aus, als Jonas nochmals auf die gerade geschilderte Situation zurückkommt: «Das war damals stark von dir. Hätte ich nicht gedacht! Ich wusste, dir bin ich nicht egal. Auf den kannst du dich verlassen. Das war mir da klar!» Alfred Krohn hatte diese Situation längst vergessen. «Und was haben deine Freunde damals gesagt?» – «Die haben mich angemacht, was ich für blöde Eltern habe!» – «Und?», will der Vater wissen.
«Zuerst fand ich das ja auch beschissen von dir! Aber dann hab ich denen gesagt, sie könnten ja nur deshalb so lange bleiben, wie sie wollten, weil sich keiner um sie kümmern würde.»
«Und?»
«Da haben die nichts mehr gesagt!»
«Gute» Worte überhören Pubertierende nicht selten, sie testen ihre Eltern aus, ob sie handeln. Viele Eltern warten zu lange ab, bevor sie klare Grenzen setzen – oft selbst dann noch, wenn die Situation Deutlichkeit und Festigkeit verlangt. Manchmal ist Handeln unabdingbar. Tun Eltern dann nichts, fahren Pubertierende so lange mit dem störenden Verhalten fort, bis Konsequenzen folgen. Es macht allerdings nur dann Sinn, Konsequenzen zu ziehen, wenn man sie in einem ruhigen Ton vorträgt, wenn den Pubertierenden diese
vorher
klar sind und wenn man sie auf derBasis einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Eltern und Heranwachsenden artikuliert.
Androhungen hingegen, gerade wenn sie im Zustand höchster Erregung ausgestoßen werden, ändern nichts. Drohungen führen meist dazu, dass Heranwachsende ihre Eltern weiter provozieren. Und Drohungen können auch Rache- oder Vergeltungsgefühle auslösen: «Mal sehen, wer hier gewinnt!»
«Aber», wendet Maria Baier ein, «gerade mit Drohungen habe ich große Erfolge.»
«Welche?», will ich wissen.
«Wenn meine Söhne etwas nicht erledigt haben, dann drohe ich mit Fernseh-, Kino- oder Disco-Verbot!»
«Und das funktioniert?»
«Dann geschieht es auf der Stelle, dann hab ich meine Ruhe!»
«Wirklich?»
«Wie meinen Sie das?»
«Wie häufig müssen Sie denn drohen?»
«Jeden Tag! Immer wieder, und in der letzten Zeit immer mehr!»
Strafen ändern nichts am störenden Verhalten der Heranwachsenden. Strafen mögen zwar
kurzfristig
eine Situation entspannen – «Wenn du jetzt nicht aufhörst, dann flipp ich aus» – oder ein Resultat zeitigen: «Wenn du jetzt nicht aufräumst, gibt’s kein Fernsehen!» Das ist aber nur ein kurzzeitiges Erfolgserlebnis, denn so zeigt man den Heranwachsenden keine Möglichkeit auf, sich zukünftig anders, vor allem selbständiger, zu verhalten. Elterliche Strafaktionen, die ein Heranwachsender als erniedrigend empfindet, führen entweder zu dem Wunsch, sich durch weitere Störungen an den Eltern zu rächen, oder aber zu überangepasstem Verhalten, das vor impulsiven Strafen schützen soll.
Wer Regeln aufstellt, muss sie einhalten
Mich überrascht manchmal, mit welcher Gutgläubigkeit Eltern meinen, Kinder würden, wenn Eltern Grenzen einfordern, aufspringen und ganz beflissen Einsicht zeigen – nach dem Motto: «Find ich gut, wie du das jetzt sagst. Selbstverständlich mach ich das!»
Nein, Jugendliche testen Grenzen aus. Das ist normal – und wer als Erwachsener Grenzen andeutet, muss dies wissen. Grenzen fordern Heranwachsende heraus:
Zum einen wollen Heranwachsende wissen, ob es Eltern mit den Regeln ernst meinen oder ob sie nur aus einer Laune aufgestellt worden sind.
Die Räume jenseits der Grenzen interessieren Heranwachsende. Es ist ein Land, das sie noch nicht kennen. Hier lockt der Reiz des Verbotenen. Vielleicht warten hier Dinge, die Heranwachsende heimlich auskosten und kennenlernen möchten. Unbekanntes reizt Heranwachsende.
Schließlich gibt es Heranwachsende, die sind nur an Störungen interessiert, weil nur sie bei Grenzüberschreitungen Aufmerksamkeit bekommen. Regelverletzungen garantieren ihnen sozusagen das
Weitere Kostenlose Bücher