Pulphead
der aus dem Koma auftaucht. Die Wartezeit ist mir als eine Collage aus fürchterlichem Essen, vorsichtigem Zuspruch der Pfleger und der beunruhigenden, trägen Präsenz meines Bruders in seinem Bett in Erinnerung. Ein Orakel, das die Antworten
auf alle unsere Fragen kannte, aber sich weigerte zu sprechen. Wir betraten und verließen sein Zimmer wie Touristen die Ausstellungsräume eines Museums.
»Am dritten Tag« (ich selbst hätte das nie so formuliert, aber in seiner Sendung erledigt Shatner das für mich) wachte Worth auf. Die Schwestern brachten uns mit fast stolzen Gesichtern in sein Zimmer, und da saß er – vorsichtig auf seine Ellenbogen gestützt, mit schweren Lidern, fast so, als könne er sich jeden Moment entscheiden, wieder ins Koma zu gleiten, weil es ihm dort besser gefiel. Wenn wir jetzt sein Zimmer betraten, strahlte er wie ein glücklicher Idiot und begrüßte jeden von uns mit Namen, seine Stimme ein kaum hörbares Krächzen. Er schien uns zu kennen, aber keinen blassen Schimmer davon zu haben, warum wir alle da waren, oder wo »da« überhaupt war – obwohl er in den nächsten zwei Wochen einige Theorien zu diesem Thema entwickeln sollte: ein Hochzeitsempfang, ein High-School-Pokerturnier, irgendwann auch eine Art Gefängniszelle.
In den letzten Jahren habe ich immer wieder versucht, den Leuten die Person zu beschreiben, die aus dem elektrischen Nahtod aufwachte und etwa einen Monat bei uns blieb, ehe Worth wieder zu dem Menschen wurde, der er vorher war und jetzt wieder ist. Es würde mir eine Menge Mühe ersparen, wenn ich einfach sagen könnte: »Er war wie auf LSD «, aber das wäre nicht ganz richtig. Er schien eher auf einem dieser imaginären Acid-Trips zu sein, wie wir sie uns in der Junior High vorstellten, ehe wir begriffen, dass ein richtiger Trip in Wahrheit einen Tick weniger magisch ist. »Ey, Alter, deine Nase ist ein Stern oder so, abgefahren« – so war Worths Zustand. Mein Vater und ich machten Notizen, ohne zu wissen, dass der andere ebenfalls mitschrieb. Wir wollten jede seiner kleinen Enthüllungen festhalten, ehe sie verschwanden. Meine eigene Liste liegt jetzt vor mir. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich schreibe einfach ein paar Sachen ab:
Spät in der Nacht des 23. meine Hand gedrückt und geflüstert: »Das ist die menschliche Erfahrung.«
Beim Mittagessen am 24. plötzlich die Überzeugung, dass ich mich als sein Bruder ausgebe. Will meinen Ausweis sehen. Er fragt mich: »Wie kommt jemand auf die Idee, sich für John auszugeben?« Ich protestiere: »Worth, sehe ich etwa nicht aus wie John?« Darauf er: »Du siehst exakt so aus wie er. Kein Wunder, dass du damit durchkommst.«
Tagsüber am 25. steht er auf, und obwohl ich ihn zurückhalten will, kippt er das Tablett mit seinem Mittagessen um. Sein Blick streift meine Hände auf seinen Schultern, und er sagt: »Ich habe nichts gegen . . . schwule Liebe. Aber ich stehe auch nicht drauf.«
Am Abend des 25. starrt er seine Zehen am Fußende des Betts an und bemerkt: »Das gäbe ein schönes Bild: Füße im Rauch.«
26., tagsüber. Nennt den Herzmonitor »eine starre, massive Tüte Nährstoffe.«
26., nachts: Worth schlägt mit voller Kraft nach mir, als ich mit Dad und Onkel John versuche, ihn unter Kontrolle zu bringen. Er verfehlt mich nur um Zentimeter. Die Infusionsschläuche werden aus seinen Armen gerissen, in seinen Augen sind Angst und Hilflosigkeit. Ich glaube, er hält uns für Faschoschläger.
Am Abend des 27. springt er plötzlich mit wirrem Ausdruck im Gesicht auf und läuft zur Wand. Er fährt mit seiner Hand über die Tapete wie ein Blinder. Dreht sich um. Fragt, wo die Piñata sei. Schlurft auf den Flur. Bemerkt eine dicke Kran
kenschwester, die vor uns den Korridor entlanggeht. Murmelt, »wenn die unsere Piñata hat, dann werde ich sauer.«
Was anfangs eine Tragödie zu sein schien, wandelte sich allmählich zur Tragikomödie und schließlich zur regelrechten Farce; es fällt schwer, das eine vom anderen klar abzugrenzen. Worth war der reizendste Betrunkene, den man je getroffen hat – ich musste ihm wie sein Sidekick durch das Krankenhaus folgen, damit er nicht stürzte, denn er konnte nicht stillstehen oder sich länger als eine Sekunde auf etwas konzentrieren. Er wurde zum heiligen Narren. Er sah in seine Handinnenfläche, in die der Bund der Gitarre und die sechste Saite ein tiefrotes Kreuz gebrannt hatten, und sagte: »Hey, fast wie Stigmata,
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