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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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verstanden habe, war der Puls meines Bruders ein fast ununterbrochenes Pochen gewesen, einem Trommelwirbel ähnlich, aber kraftlos, ohne Blut irgendwohin zu pumpen. Als ich ankam, schlug sein Herz zumindest wieder aus eigener Kraft, seine Atmung wurde von einer Maschine erledigt. Die schlechteste Nachricht betreffe sein Gehirn, erklärten sie uns, weil es nur ein Prozent Aktivität zeigte. Worth vegetierte vor sich hin.
    Im Wartezimmer kam eine dicke, ungefähr sechzigjährige Krankenschwester auf mich zu, die sich als Nancy vorstellte. Sie nahm meine Hand und führte mich durch zwei leise, gläserne Schiebetüren zur Intensivstation. Mein Bruder war ein Albtraum aus Schläuchen und Drähten, finstre Maschinen zeichneten schweigend jede innere Bewegung auf, und eine Pumpe
füllte und leerte seine nutzlosen Lungen. Es roch streng nach getrocknetem Speichel. Seine Augen waren geschlossen, die Muskeln schlaff. Es war, als lebten einzig die Maschinen, besessen von dem perversen Willen, seinen Körper nicht aufzugeben.
    Ich stand vor ihm und starrte ihn an. Aus der Ecke des Zimmers redete die Krankenschwester in einem unerwartet vorwurfsvollen Tonfall auf mich ein, der mir damals einen Stich versetzte und selbst im Rückblick schwer zu erklären scheint. »Der große Bruder wacht morgen nicht einfach auf und alles ist wieder gut«, sagte sie. Ich sah sie an wie ein Auto. Hatte ich noch nicht ausreichend geschockt ausgesehen?
    »Ja, das ist mir bewusst«, sagte ich, und bat sie, uns allein zu lassen. Als sich die Tür hinter mir schloss, ging ich zum Bett. Worth und ich haben verschiedene Väter, rein technisch gesehen sind wir Halbbrüder, obwohl er bereits bei meinem Vater lebte, als ich geboren wurde, was bedeutet, dass ich das Leben nicht ohne ihn kenne. Nichtsdestotrotz sehen wir uns überhaupt nicht ähnlich. Er hat dichtes dunkles Haar und olivfarbene Haut, und in jener Nacht im Krankenhaus war er das wahrscheinlich einzige Familienmitglied mit grünen statt blauen Augen. Ich beugte mich über sein Gesicht. Seine normalerweise geröteten Wangen waren weiß, seine Lippen leicht geöffnet für den Sauerstoffschlauch. Da war nichts, kein Anflug von Leben, kein Kampf und keine Krise, da waren nur die grauenhaft mechanischen Geräusche des Beatmungsgeräts, das Luft in seinen Brustkorb pumpte und wieder absog. Ich hörte die angestrengt beherrschten Stimmen meiner Onkel, die mir von der einprozentigen Hirnaktivität berichteten. Ich ging mit dem Mund dicht an das rechte Ohr meines Bruders. »Worth«, sagte ich. »Ich bin's, John.«
    Ohne Vorwarnung erwachte sein Ein-Meter-vierundneunzig-Körper zum Leben, er wand sich unter den Fesseln, stemmte sich gegen die unzähligen Schläuche und Drähte, die in sei
nen Körperöffnungen steckten und seine Haut durchbohrten. Sein Kopf flog zurück, seine Augen klappten auf. Die Pupillen waren fast nicht vorhanden. Nur einen kurzen Augenblick lang sahen sie mich verschwommen an, dann schlossen sie sich. Aber was für ein Augenblick! Als freiwilliger Feuerwehrmann im College hatte ich einmal einen Toten aus einem umgestürzten Auto ziehen müssen, und ich erinnere mich an den Blick seiner offenen Augen, als ich ihn an meine Kollegen weiterreichte – ich hatte Pathos erwartet, einen Schatten seiner letzten Gedanken, aber seine Augen waren Murmeln, bloße Dinge. Die Augen meines Bruders waren anders. Sie waren die Augen eines Mannes, der aus einem Brunnen zu klettern versucht und bei der kleinsten Bewegung wieder hinab zum Grund rutscht. Worths Kopf sank bewegungslos ins Kissen, sein Körper war erschöpft vom kurzen Versuch, zurück in die Welt zu gelangen. Ich hatte seine Hand ergriffen, ohne es zu merken, jetzt ließ ich sie los und trat zurück auf den Flur.
     
    Diese Nacht und weitere vierundzwanzig Stunden verbrachte Worth im Koma. Es gab keine sichtbaren Anzeichen für eine Veränderung, aber die Maschinen registrierten erste Hinweise auf vermehrte Hirnfunktion. Der Neurochirurg, ein Ire, erklärte uns, dass das Gehirn selbst eine Art elektrische Maschine sei (für ihn muss das wie Kindersprache geklungen haben) und dass der Strom, der aus dem klassischen Gibson-Verstärker meines Bruders in seinen Körper geflossen war und ihn traumatisiert hatte, auf gewisse Weise immer noch in seinem Schädel umhersause. »Es gibt eine reelle Chance«, sagte der Arzt, »dass er aus dem Koma erwacht.« Aber niemand könne sagen, was übrig bleibe; niemand könne sagen, wer es sein würde,

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