Pulphead
wenn da nur nicht diese ganzen Ameisen rumkriechen würden.« Er stellte meine Eltern einander vor, als wären sie sich noch nie begegnet: »Mom, das ist Dad; Dad, das ist Dixie Jean.« Als der Neurochirurg ihn fragte, ob er seinen Namen buchstabieren könne, sagte er: »Wenn Sie Edmund Spenser wären, Doktor, würden Sie ihn wohl w-o-r-t-h-E buchstabieren.«
Als ich eine der Schwestern fragte, ob er jemals wieder normal sein würde, antwortete sie: »Vielleicht, aber wäre es nicht toll, wenn er so bliebe?« Sie hatte recht, sie brachte mir Demut bei. Ich kann mir nichts Hoffnungsvolleres oder Komischeres vorstellen als einen Sitzplatz im Hirnzirkus meines Bruders, während er seine Wirklichkeit wieder zusammensetzte. Wie so viele Menschen hatte ich als Vulgär-Hobbesianer immer angenommen, dass der Kern des Gehirns, wenn man ihn jemals finden könnte, notwendigerweise ein ziemlich dunkler Ort sein müsse und dass alles Gute und Schöne am Menschsein ein Ergebnis unseres Kampfes gegen alles Angeborene und Körperliche sei. Mein Bruder hat meine Meinung geändert. Sein Bewusstsein war bloß noch Materie, eine Kugel knisternder Synapsen – Worte, deren Verwendung er kannte, die er aber
nicht mit den richtigen Dingen in Verbindung bringen konnte; seltsame neue Objekte, für die er Namen erfinden musste; unbekannte Menschen, die kamen und gingen wie Energiefelder. Dieses Bewusstsein war ein guter, vielleicht sogar ein poetischer Ort. Er hatte den Tod berührt, beziehungsweise der Tod ihn, aber trotzdem schien das Leben für ihn nicht minder interessant zu sein.
Da ist noch diese eine Sache:
Es war am späten Nachmittag des 25. April. Die Fensterläden warfen ihre Schatten in sein Zimmer auf der Intensivstation. Ich hatte meine Mutter und meinen Vater gefragt, ob ich einen Moment mit ihm allein sein könnte, weil ich mir immer noch nicht sicher war, ob er wusste, wer ich war. Ich wusste, dass er nicht wusste, dass er sich in einem Krankenhaus befand; aktuell glaubte er, dass wir im Haus meiner Großeltern eine Party feierten, und irgendwann machte er sich los und ging ins Schwesternzimmer, weil er wissen wollte, ob sein Smoking fertig sei. Jetzt saßen wir in seinem Zimmer. Keiner von uns beiden sagte etwas. Worth fuhrwerkte mit einer Gabel in seinem Wackelpudding herum, ich sah ihm zu und wartete. Morgens hatte ihm die Anwesenheit der vielen »Fremden« Angst gemacht, und ich wollte ihn nicht noch mehr erschrecken. Fünf Minuten lang war es absolut still.
Dann begann er, sehr leise zu weinen, die Wucht der Gefühle hob seine Schultern. Ich berührte ihn nicht; ich ließ ihn einfach weinen. Eine weitere Minute verging. Ich fragte ihn: »Worth, warum weinst du?«
»Ich habe an die Vision gedacht, die ich hatte, als ich wusste, dass ich tot war.«
Obwohl ich mir sicher war, ihn richtig verstanden zu haben, fragte ich noch einmal. Er wiederholte im gleichen flachen Ton: »Ich habe an die Vision gedacht, die ich hatte, als ich wusste, dass ich tot war.«
Wie konnte er von seinem Tod wissen, wenn er noch nicht einmal wusste, dass er sich im Krankenhaus befand oder dass ihm überhaupt etwas Ungewöhnliches zugestoßen war? War es ihm plötzlich klar geworden?
»Was war es? Was war deine Vision?«
Er sah auf. Die Tränen waren verschwunden. Er schien ruhig und ernst. »Ich stand am Ufer des Styx«, sagte er. »Das Boot, mit dem ich übersetzen sollte, kam näher, aber . . . statt Charon saßen Huck und Jim am Ruder. Nur dass Huck, als er seine Kapuze zurückschlug, ein alter Mann war . . . neunzig oder so.«
Mein Bruder vergrub sein Gesicht in den Händen und schluchzte noch ein wenig. Dann schien er den Vorfall zu vergessen. Laut meinen Aufzeichnungen waren seine nächsten Worte: »Guck mal, ich hab die Andrew Sisters in meinem Milchshake.«
Wir haben seitdem nie wieder ein Wort darüber verloren. Es ist schwierig, mit meinem Bruder über Dinge zu reden, die mit seinem Unfall zu tun haben. Ein ganzer Monat wurde von seinem Erinnerungstape gelöscht, und dieser Monat beginnt in der Sekunde, als seine Lippen das Mikrofon berühren. Er kann sich nicht an den Schock erinnern, nicht an den Krankenwagen, nicht an seinen Tod und auch nicht an seine Rückkehr ins Leben. Als er aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, konnte er sich immer noch nur vage zusammenreimen, dass er für irgendein Konzert irgendwo spät dran war, und meine letzte Erinnerung an den Worth dieser Phase ist sein ruhiges Winken, als
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