Pulphead
ich ihm sagte, dass ich wieder zur Uni müsse. »Wir sehen uns beim Konzert«, rief er quer über den Parkplatz. Wenn bei Familientreffen das Gespräch auf seinen Unfall kommt, sieht er uns misstrauisch an. Es ist die Geschichte eines anderen, eine Geschichte, von der er vermutet, dass wir sie ein wenig übertreiben.
Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, versuche ich bis heute, seine Vision zu entschlüsseln. Mein Bruder war nie ein
großer Kirchgänger (mit fünfzehn bekannte er sich zum Deismus), aber zur High-School-Zeit ein hervorragender Lateinschüler gewesen. Seine Lehrerin Miss Rank war eine herzensgute und geistreiche alte Dame mit Dutt, die ihren Schülern klassische Mythologie eintrichterte. Vielleicht war es so, dass mein Bruder, als die Zeit für seine Nahtod-Erfahrung gekommen war, in den Tiefen seiner Psyche nach einem Mythos suchte, der seiner Angst einen Sinn geben würde, und er sich für die Geschichte entschied, die ihn als jungen Mann am meisten gefesselt hatte. Für die meisten wäre das wohl die typische Licht-am-Ende-des-Tunnels-Geschichte gewesen; für meinen Bruder war es die Unterwelt.
Ich habe keine Ahnung, wie er dabei auf Huck und Jim kam. Mein Vater war ein fanatischer Mark-Twain-Jünger – er verlor seinen einzigen Job als Lehrer, weil er die Erstklässler in der Pause im Klassenzimmer sitzen ließ und ihnen Plattenaufnahmen mit Texten des Meisters vorspielte –, und er stieß auf die einzige Spur: Der Unfall hatte sich an Twains fünfundachtzigstem Todestag ereignet.
Ich bin einfach froh, dass Huck und Jim meinen Bruder an diesem Ufer gelassen haben.
Mr. Lytle
Als ich zwanzig Jahre alt war, ging ich in eine Art Lehre bei einem Mann namens Andrew Lytle, den seit mindestens zehn Jahren niemand außer seiner fast ebenso steinalten Schwester Polly anders als Mr. Lytle genannt hatte. Sie nannte ihn Bruder. Oder Bruda – wahrscheinlich hat keiner von beiden jemals das R am Ende eines Wortes ausgesprochen. Seine beiden erwachsenen Töchter nannten ihn Daddy. Ich habe nie auch nur den entferntesten Wunsch verspürt, ihn mit Andrew oder Old Man oder sonst einer Vertrautheit anzusprechen, obwohl er mich des Öfteren wissen ließ, dass es in Ordnung wäre, wenn ich ihn Mon Vieux nennen würde. Er nannte mich »Junge« und »mein Lieber« und einmal, in einem Brief, »Hauch meiner Nüstern«. Kurz vor seinem zweiundneunzigsten Geburtstag zog ich in seinen Keller, und kurz bevor er im Winter darauf dreiundneunzig werden konnte, haben sie ihn in einem Sarg begraben, bei dessen Herstellung ich geholfen habe, einem Sarg aus Kiefernholz, denn Kiefer riecht gut, sagte er. Ich war keine große Hilfe. Ein paar Nächte blieb ich wach und rieb in einer eiskalten und grell erleuchteten Werkstatt Bienenwachs auf die Bretter. Wir waren zu viert – die anderen, älteren Männer sägten und hobelten selbstvergessen. Sie meißelten Schwalbenschwanzverbindungen. Abgesehen davon, dass ich im Werkunterricht ein paar Bretter an eine Bandsäge verfüttert hatte, ging meine Erfahrung mit Holzarbeiten gegen null, und weil keine Zeit war, um irgendwelche Pfuschereien von mir zu korrigieren, folgte ich einfach den Anweisungen und arbeitete mit einem zerrissenen Unterhemd Bienenwachs in das Kiefern
holz ein, bis seine gräulichen Astlochwirbel lila leuchteten, als würden sie erinnertes Leben bergen.
Der Mann, der die Nachtwache beaufsichtigte, war ein Geigenbauer namens Roehm, dessen Haus im Wald am Rand des Plateaus stand. Er war knapp zwei Meter groß, seine Haare fielen ihm schlaff in die Stirn, er trug einen dicken, grauen Schnurrbart und eine riesige Brille. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden getroffen, der so nervös war wie Roehm in diesen paar Tagen. Das Kiefernholz war »grün«, es war nicht ordnungsgemäß getrocknet worden. Er stöhnte, dass es sich nicht richtig verhalten würde. Er muss diese Hektik gehasst haben. Lytle hatte wochenlang im Sterben gelegen; einige Schlaganfälle hatten ihm die Orientierung genommen. Zum Ende nahm er mehr Morphium als Wasser zu sich. Immer wieder sagte er, dass es »Zeit sei heimzugehen«, womit er zuerst noch meinte, dass wir ihn zurück in sein Haus bringen sollten, sein richtiges Haus, nicht dieses schreckliche Trugbild, in das wir ihn in seiner Wahnvorstellung geschmuggelt hatten. Erst später, als die Fieberanfälle scheinbar zu einer Klarheit verschmolzen, die unerträglich gewesen sein muss, einer blauen Flamme hinter seinen Augen, bekam die Wendung
Weitere Kostenlose Bücher