Pulphead
die Bedeutung, die man vermuten würde.
Mit anderen Worten: Er ging nicht plötzlich. Er hatte ein Sterbebett. Und obwohl seine Familie und Freunde seit Jahren von seinem Wunsch nach einer Bestattung in Kiefer gewusst hatten, wofür ein Sarg eigens angefertigt werden musste, hatte sich niemand mit dem Gedanken beschäftigt, wer in dieser Gegend einen solchen Sarg bauen könnte und wie lange man dafür brauchte. Ich nehme ihnen – uns – diese Pflichtverdrängung nicht übel, denn sie beruhte auf einer fundamentalen Skepsis. Lytles Existenz war im Grunde schon so lange posthum gewesen, dass er nicht auf die alberne Idee kommen würde, jetzt auch noch tatsächlich zu sterben. Mein Großvater erzählte mir einmal, dass Lytle schon damals in Sewanee, in
den dreißiger Jahren, als ein alter Mann galt – sechzig Jahre, bevor ich ihn kennenlernte. Und er bestärkte diesen Eindruck mit seinem Gerede davon, dass er »im Bewusstsein von Ewigkeit leben wolle«, und dass die Welt, in der er aufgewachsen war – Tennessee am Anfang des 20. Jahrhunderts – größere Ähnlichkeit mit dem mittelalterlichen Europa hatte als mit dem Süden seiner alten Tage. All seine Freunde und Feinde waren tot. Eine mittlere Tochter hatten sie schon vor Ewigkeiten begraben. Seine eigene Frau war seit vierunddreißig Jahren tot, und jetzt war Mr. Lytle tot, und wir hatten keinen Kiefernsarg.
Aber irgendwer kannte Roehm oder hatte von ihm gehört. Und wie sich herausstellte, kannte Roehm Lytles Bücher. Und als man Roehm sagte, dass er nur ein paar Tage haben würde, um seine Arbeit zu beenden, machte er sich ohne zu zögern und sogar mit einer gewissen Ungeduld an die Arbeit, als fürchtete er, einen unerbittlichen Meister zu verärgern. Ich sehe ihn in seiner kleinen Werkstatt, wie er immer wieder Tupperbecher mit schwarzem, angebranntem Kaffee in der Mikrowelle erhitzte und sie wie Coca-Colas kippte. Er war ein Riese. Er war derartig groß, dass für uns kaum Platz zu sein schien, vor allem weil der Sarg bereits aufgebockt in der Mitte des Raumes stand und wir uns an der Wand entlangschlängeln mussten. Ein paarmal pro Nacht kollabierte Roehm, der es sonst gewohnt war, sich monatelang mit kleinen, zarten Instrumenten herumzuplagen. Er kauerte dann auf seinem Stuhl, das Gesicht in den Händen vergraben, und stöhnte »Das geht so nicht!« in seine schweigenden Handflächen. Mein Freund Sanford und ich starrten ihn nur an. Aber der vierte Anwesende, ein kleiner Mann namens Hal, der zum Ende hin bei Lytle im Obergeschoss gewohnt und als Krankenpfleger fungiert hatte, kannte Roehm besser – jetzt, wo ich drüber nachdenke, kommt es mir vor, als sei er es gewesen, der der Familie von Roehm erzählt hatte. Hal also legte seine Hände auf Roehms
Schultern und flüsterte ihm zu, er solle ruhig bleiben, wir alle wüssten, dass er eigentlich zu wenig Zeit habe, und wenn er wollte, könnten wir eine Pause machen. Dann rauchte Roehm. Er hielt die Zigarette wie ein Bösewicht aus einem alten Film, zwei Finger oben, die Glut in der hohlen Hand. Sanford und ich saßen bei laufender Heizung in seinem alten Truck und tranken Wodka aus seinem mitgebrachten Flachmann, wir starrten den Schuppen und das kleine, helle Fenster an und sagten kein Wort.
Wochen später erzählte mir Sanford eine Geschichte, die er von Hal gehört hatte, wie Hal nämlich am Tag von Lytles Beerdigung – seltsamerweise tauchte Roehm dort nicht auf – um sieben Uhr morgens aufgewacht sei und Roehm am Fußende von Hals Ehebett gesessen und immer wieder »So geht's« vor sich hingesagt habe. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Der Sarg war ein Kunstwerk, aber fast niemand bekam ihn zu sehen. Während des Gottesdienstes und auf dem Weg zum Friedhof war er unter einem Sargtuch verborgen, und als die Leute am Grab standen, um einer nach dem anderen Erde in die Grube zu werfen, war der sechseckige Deckel mit dem Rollwerk, für das Roehm unerklärlicherweise noch Zeit gefunden hatte, nur wenige Sekunden lang sichtbar, ehe er verschwand.
Verschiedene Jungen hatten bei Lytle gelebt, seit er seine Frau verloren hatte, vielleicht auch schon davor – jedenfalls war es eine etablierte, wenn auch nicht offizielle Praxis, als ich mit siebzehn ans College kam. Früher waren es hauptsächlich Studenten gewesen, deren Schreiben vielversprechend war, zumindest nach Meinung eines gewissen beliebten, frühzeitig ergrauten Professors, der seinerseits ein ehemaliger Protegé Lytles war, und
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