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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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fragte, ob er glaube, dass es irgendeine Hoffnung gebe. Einfach so: »Gibt es irgendeine Hoffnung?« Seine Antwort war
fast feierlich. Er erzählte mir, dass in den Fluren von Versailles ein leichter Geruch, nur der Hauch eines Geruchs von menschlichen Exkrementen hing, »weil immer ein wenig aus den Töpfen spritzte, wenn die Zimmermädchen hin- und hereilten.« Viele Jahre später wurde mir klar, dass er sich halb an ein Detail vom Hofe Louis XV erinnert hatte, nämlich, dass es im Palast so wenige und so ungünstig gelegene Latrinen gab, dass sich die Marquisen davonstahlen, um sich in den Treppenhäusern und hinter all den schönen Möbeln zu erleichtern, aber an diesem Abend hatte ich keine Ahnung, was er meinte – bis heute habe ich es nicht wirklich.
    »Habe ich dir meinen Weihrauchkessel gezeigt?«, fragte er.
    »Ihren was?«
    Er schlurfte ins Esszimmer und öffnete eine Glasvitrine. Als er zurückkam, hatte er einen kleinen dreibeinigen Topf im Arm, den er vorsichtig auf den Hackblock zwischen uns stellte. Er war wunderschön bemalt und von winzigen Rissen überzogen. Ein Drache mit Hundegesicht lag zusammengerollt auf dem Deckel und bewachte eine grüne Perle. Lytle drehte das Gefäß in einen bestimmten Winkel, so dass die Oberfläche dunkler schien, mit einem Stich orange. »Die Glasur ist angesengt, siehst du?«, sagte er. »Von der Explosion, nehme ich an, oder von den Feuern.« Er drehte es um. Am Boden war die Signatur des Töpfers lesbar, oder sie wäre lesbar gewesen, hätte man Japanisch gekonnt. »Dieser Topf«, sagte er, »wurde aus den Trümmern von Hiroshima gerettet.« Ein Kommilitone aus Vanderbilt, einer der Fugitive Poets, war nach der Uni Marineoffizier geworden und hatte ihm den Topf nach dem Krieg gegeben. »Wenn ich tot bin, sollst du ihn haben«, sagte er.
    Weil ich wusste, dass er sich am nächsten Morgen oder schon eine halbe Stunde später nicht mehr daran erinnern würde, sparte ich mir die Mühe der Ablehnung und bedankte mich. Aber er erinnerte sich. Er vermachte mir das Teil.
    Zehn Jahre später, in New York City, stieß Holly Kitty, meine
adoptierte Straßenkatze, den Topf von einem Regalbrett, von dem ich gedacht hatte, dass sie es nicht erreichen könnte, und er zerbrach. Einen Großteil der Nacht blieb ich wach und klebte die Splitter wieder zusammen.
     
    Lytles Demenz schritt immer schneller voran. Ich hoffe, es ist nicht grausam zu erwähnen, dass ihre Auswirkungen bisweilen auch lustig sein konnten. Er bestand darauf, das K-Y-Gel, das wir als Gleitmittel für seinen Kolostomiebeutel benutzten, Kyle Gel zu nennen. Irgendwann kam er mit dem Verwendungszweck durcheinander und stand mit seiner Zahnbürste und einer leeren Tube von dem Zeug in meiner Tür. »Schreib Kyle auf die Liste, Junge«, sagte er. »Ist leer.«
    Die Abende verbrachte er meist allein und wärmte vierzig Jahre alte Kämpfe mit toten Autorenfeinden wieder auf, Ein-Personen-Stücke, in denen er Doppelrollen einnahm und manchmal wild schrie und mit seinem Stock auf den Boden hämmerte. Am weitaus häufigsten war Allen Tate, sein Mitstreiter, der zur Nemesis geworden war, der Gegner, aber seine Wut war so allumfassend, dass scheinbar jeder, den er jemals gekannt hatte, zum Verräter werden konnte, der sich mit der Macht verbündet hatte. Es war besonders verwirrend, wenn die Originalversion dieses Scheingefechts zwischen ihm und mir stattgefunden hatte. Ihm und dem Jungen. Tatsächlich gerieten wir mehrere Male aneinander. Standen Auge in Auge da und schrien uns an. Ich nannte ihn einen miesen alten Mistkerl oder so ähnlich; er sagte, dass ich mein Talent vergeude. Am Abend dann hatte ich ihn oben zu dem Jungen sagen hören: »Denkst du etwa, du wärst kein Sklave?«
    Einmal kam ich von irgendwoher ins Haus. Polly, seine Schwester, wohnte für ein paar Tage oben bei ihm. Ich mochte Pollys Besuche, alle mochten es, wenn sie da war. Sie buk Rumkuchen, an dem man sich zu Tode essen konnte. Wenn sie da war, gab es hausgemachte Gurken und Plätzchen. Sie war eine
kleine Frau mit dicken Brillengläsern, die ihre Augen riesengroß erschienen ließen; ihre Knöchel waren kantig vor Arthritis. Wer wusste schon, was sie über all die Nächte mit ihrem Bruder und seinen interessanten Künstlerfreunden dachte und ob sie sich überhaupt damit beschäftigte (einmal hatte die Schlafzimmer-Aufteilung in irgendeinem gemieteten Haus sie gezwungen, eine ganze Nacht zwischen dem fetten alten Ford Madox Ford und seiner

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