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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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schlich ich mich in sein Zimmer und nahm die Schutzhülle ab, um zu sehen, was er geschrieben hatte: Es war ein einziger Satz von vielleicht dreißig oder vierzig Worten. Ein paar waren durchgestrichen, mit Kugelschreiber hatte er Alternativen darüber geschrieben. Der Satz überwältigte mich. Ein Teil von mir hatte ein zusammenhangloses Durcheinander befürchtet, das nichts Gutes über unser Experiment zu erzählen wusste, über die Ausbildung, die er mir angedeihen ließ, aber das Gegenteil war der Fall: Der Satz war perfekt. Lytle beschrieb darin eine Kindheitserinnerung: Ein
paar Leute, die in einem frühen Automobil unterwegs sind, der Fahrer verliert die Kontrolle, und sie steuern in ein geöffnetes Scheunentor, aber eine Laune des Schicksals will es, das die Scheune komplett leer ist und die Tore an der anderen Seite ebenfalls weit offen stehen, und so fährt das Auto durch die Scheune und wieder ins Sonnenlicht, die Passagiere lachen und hupen und winken, berauscht von ihrem wundersamen Überleben, und Lytle hatte es irgendwie geschafft, den schnellen und fast alchemistischen Wandel von Schrecken zu Freude mit seiner Sprache nachzuempfinden. Ich weiß nicht, warum ich den Satz nicht abgeschrieben habe – wahrscheinlich war es mir peinlich, ihm nachspioniert zu haben. Danach schrieb er nie wieder etwas. Für mich allerdings war das der Schlüsselmoment meines Jahres mit Lytle. Was er trotz seiner Schwäche noch zustande brachte, war mir unmöglich. Ich fing an, ihm genauer zuzuhören, selbst wenn er mich langweilte.
    Sein Haar war spärlich und quecksilbern. Er trug immer ein Tweedjacket und um den Hals einen Zahnstocher mit Goldgriff, der aus dem angespitzten Penisknochen eines Waschbären gemacht war. Einmal setzte ich mir seine Brille auf die Nase, und meine Hände wurden zu großen beigen Klumpen am Ende meiner Arme. Auf seiner Stirn hatte er ein Ding, eine außer Kontrolle geratene Zyste, nehme ich an. Es hatte die Größe und Form eines halben Tischtennisballs. Sein Arzt hatte ihm mehrmals angeboten, es zu entfernen, aber für Lytle war es willkommener Gesprächsstoff. »Die Eitelkeit kriegt mich nicht zu fassen«, sagte er. Er trug einen grauen Filzhut mit einer Hüttensängerfeder im Hutband. Die Haut seines Gesichts schien eigentümlich jung. Straff und durchscheinend. Der Rest seines Körpers dagegen war außerirdisch. Einmal in der Woche half ich ihm beim Baden. Gott allein weiß, wie lange die Muttermale und was er sonst noch auf seinem Rücken hatte schon ungesehen vor sich hin wuchsen. Seine Haut war teigig. Nicht schlaff oder knotig oder dergleichen – er war nicht krank –,
sondern fragil, zart. Sein Körper war haarlos. Seine Zehennägel waren zu Horn verhärtet. Nach dem Bad legte er sich nackt zwischen frische Laken, er musste sich komplett trocken fühlen, ehe er sich anzog. Alle Lytles hätten nervöse Veranlagungen, sagte er.
    Ich fand ihn exotisch; vielleicht fand ich ihn sogar schön. Meine Beziehung zu ihm war im Kern anthropologisch. Ihm seine mehr oder weniger täglichen Ausbrüche von Rassismus, Chauvinismus, Antisemitismus, Standesdünkel und etwas, das ich nur als Mittelalternostalgie beschreiben kann, übel zu nehmen, schien mir in etwa so abwegig, wie diese Dinge mit einem Höhlenmenschen zu diskutieren. Es blieb nur, den Mund zu halten und ihn zu fragen, was die Höhlenkunst bedeutet. Der Eigennutz und Zynismus dieser Haltung ist rückblickend leicht zu durchschauen, aber ich kann nicht so tun, als würde ich es bereuen oder mir wünschen, das Ganze abgebrochen zu haben.
    Da war noch etwas anderes, etwas weniger Verachtenswertes, eine warnende Stimme in meinem Kopf, die es ungerecht fand, einen Mann mit derart verminderten Fähigkeiten zu belehren. Ich war mir nie sicher, was er sagte und tatsächlich so meinte und was einfach nur ungehindert seinem Es entglitt und durch seinen Mund entkam. Ich lief oft an seinem Hochzeitsfoto vorbei, das neben dem Geschirrschrank hing – die hohe Stirn, der breite Kiefer, die Segelohren –, und im Vorbeigehen dachte ich: Wenn du dich mit ihm messen wolltest, müsstest du dich mit diesem Mann messen. Sonst wäre es Betrug.
    Nach einer Weile begann ich, ihn zu lieben. Nicht so, wie er es vielleicht wollte, aber auch nicht haushälterisch. Mon Vieux. Ich war zwanzig und glaubte, dass mir nicht noch einmal etwas derartig Seltsames passieren würde. Ich war ein Baby. Einmal saßen wir spät nachts in der Küche und tranken, als ich ihn

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