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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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machen diesen Fehler immer.« Er bat mich, ihm etwas Whiskey einzuschenken, und verkündete dann rundheraus, dass er jetzt ein Nickerchen machen werde. Er legte sich hin und legte sich den Samtbeutel, in dem die Flasche gewesen war, über die Augen. Ich saß ihm eine halbe Stunde gegenüber, vielleicht vierzig Minuten. Erst redete er im Schlaf, dann sprach er mit mir. Seine Rückkehr ins Bewusstsein kam zögerlich und nahm kaum merkliche Wendungen. Er murmelte, er warnte. Das Leben des Künstlers sei voller Fallen. Man hüte sich vor den »Machenschaften des Feindes.«
    »Mr. Lytle«, flüsterte ich. »Wer ist der Feind?«
    Er setzte sich auf. Seine eisblauen Augen irrten umher. »Was für eine Frage«, sagte er. »Die Bourgeoisie!« Ein paar Sekunden lang starrte er mich an, als habe er vergessen, wer ich war. »Natürlich«, sagte er. »Du bist eben noch ein Baby.«
    Während seines Nickerchens hatte ich mir zwei Bourbons eingeschenkt, die ich jetzt ein wenig spürte. Er hob sein Glas. »Verwirrung dem Feinde«, sagte er. Wir tranken.
     
    Es war idyllisch, wo Lytle lebte, auf dem Gelände einer alten Chautauqua namens »The Assembly«, einer jener ländlichen Zufluchtsorte, die man ganz bewusst nördlich oder hoch gelegen errichtet hatte, als Zufluchtsorte vor den Gelbfieberplagen, von denen die mittleren Südstaaten heimgesucht wurden. Lytle konnte sich daran erinnern, schon als Kind dort gewesen zu sein. Man erzählte sich, dass ein alter Richter das Haus im 19. Jahrhundert komplett aus einer Bucht hatte heraufbringen lassen. Obwohl es mit den Jahren durch Umbauten immer eleganter geworden war, konnte man noch die Stämme in den Wänden erkennen. Die Veranda lief um das ganze Haus. Normalerweise war es still, man hörte nur den Wind in den Pinien. Außer Lytles Gästen sah man niemanden. Ein Sommerhaus, mit dem Unterschied, dass Lytle niemals abreiste.
    Er schlief in einem Eckzimmer auf einem großen, geschnitzten Bett. Sein Leben war eine unaufhörlich flüsternde Reise vom Bett zur Anrichte und zu seinem Platz am Feuer; in beigen Plüschpantoffeln umkreiste er sein Gebiet und markierte die Grenzen vorsichtig mit seinem Gehstock. Er sang vor sich hin. Das Appalachen-Lied, in dem es heißt: »A haunt can't haunt a haunt, my good old man«. Oder Lieder, die er einst in Paris gelernt hatte, als er in meinem Alter war oder sogar jünger: »Sous les Ponts de Paris« und »Les Chevaliers de la Table Ronde«. Sein Französisch war hervorragend, aber sein Akzent, wenn er Englisch sprach, war noch besser: jener ausgestorbene Pioniersakzent der mittleren Südstaaten, vermischt mit einem Hauch des keltisch-städtischen Nordostens (er sagte »boyned« statt »burned«) und seiner rauen Vornehmheit.
    Ich konnte ihn oben im Haus herumlaufen hören und wusste immer, wo er gerade war. Meine Wohnung war einmal die Küche gewesen; die Bediensteten gingen über die Hintertreppe. Der Boden war aus nacktem, nasskaltem Stein und wärmte sich niemals richtig auf, ehe es irgendwann über Nacht unerträglich schwül wurde. Wenn man schlafen wollte, hüpften
Höhlenschrecken um einen herum, man hörte das leise Klicken ihrer Beinchen bei der Landung. Wenn ich morgens aufwachte, stand Lytle oft neben meinem Bett, den Krückstock in der einen und Kaffee in der anderen Hand, und fragte: »Nun, mein Herr, sollen wir aufstehen und Ihrer Ladyschaft unsere Aufwartung machen?« Ihre Ladyschaft war die Muse. Er hatte allerlei Begrüßungen parat.
    Ein halbes Jahr lang arbeiteten wir kontinuierlich vom späten Vormittag bis zum frühen Nachmittag, dem Zeitfenster, in dem er sich am besten konzentrieren konnte. Wir lasen Flaubert, Joyce, ein wenig James, die berühmteren Russen – all die Bücher, über die er Essays geschrieben hatte. Er wollte, dass ich Jung lese. Er zerhackte meine Geschichten, bis nichts mehr davon übrig war außer den Enden, von denen er behauptete, dass er sie bewundere. »Allzu mühelose Beredsamkeit« war seine Diagnose. Ich versuchte, seine Ratschläge umzusetzen, aber sie waren derart anspruchsvoll, dass meine Bemühungen ihnen nie gerecht wurden. Er versuchte, mir bei der Lösung von Problemen zu helfen, von deren Existenz ich noch gar nichts wusste.
    Ungefähr einmal pro Tag sagte er: »Vielleicht werde ich selbst etwas zu Papier bringen, wenn mein Geist mich nicht im Stich lässt.« Eines Morgens konnte ich sogar das Klappern der Schreibmaschine von oben hören. Als er an diesem Tag seinen Mittagsschlaf hielt,

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