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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Verschluss dieser Nadel zu streicheln. Das 18. Jahrhundert lag nur eine einzige weitere Generation in der Vergangenheit. Ich vermute: Wenn man es schafft, neunzig Jahre alt zu werden, kollabiert die Zeit. Als Lytle geboren wurde, hatten die Gebrüder Wright das Flugzeug noch nicht konstruiert. Als er starb, verließ Voyager 2 das Sonnensystem. Was fängt man mit dem Nebeneinander solcher Details in einem Leben an? Es lastete auf ihm.
    Der Vorfall mit seiner Großmutter ist meisterhaft verarbeitet:
     
    Sie lief zu ihrer Krankenschwester. Die Kugel hatte die Halsvene nur knapp verfehlt. Blut färbte den Apfel dunkel, den sie immer noch in der Hand hielt, und Blut war in ihrem Schuh. Der Feind fiel von der Straße ein in ihr Haus. Schaulustige
kamen und starrten. Sie beschlagnahmten die Luft . . . In den fiebrigen Augen des Kindes reichten die Bajonette der Soldaten, die an ihrem Bett vorbeimarschierten, bis an die Decke, ihre Blicke zugleich gelangweilt und neugierig.
     
    Miss Polly kam uns wieder entgegen. Anscheinend hatte sie es sich mit der Butter anders überlegt. Wir drehten um und folgten ihr zur Hütte. Im Haus angekommen, umarmten sich die beiden. Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Mantel, sie lachte und weinte. »Oh Schwester«, sagte er. »Ich bin so ein alter Trottel, verdammt.«
    Ich habe mir manchmal gewünscht, dass wir uns einmal richtig verkracht hätten. Tatsächlich aber waren es zahllose Kleinigkeiten, die mich auf die Palme brachten. Er brauchte zu viel: essen und waschen und rasieren und ankleiden – mehr als er zugeben konnte, ohne seinen Stolz zu verlieren. Das war verständlich, aber ich hatte nicht als Butler bei ihm angefangen. Eines Tages traf ich zufällig den weißhaarigen Professor, der mir verriet, dass Lytle sich über meine Kochkünste beschwert hatte.
    Hauptsächlich allerdings hatte ich mich in eine große, neunzehnjährige Halb-Kubanerin aus North Carolina verliebt, mit Sommersprossen und glattem schwarzen Haar bis zur Hüfte. Wäre ich an der Uni geblieben, wäre sie ein Jahrgang unter mir gewesen. Sie mochte Bücher. Bei unserem zweiten Date gab sie mir die zerfledderte Ausgabe von Knut Hamsuns Roman Hunger , die ihrem Vater gehörte. Immer öfter blieb ich im Untergeschoss. Lytle reagierte mit kläglicher Verärgerung. Als ich sie ihm vorstellte, behandelte er sie kühl, machte eine leicht beleidigende Bemerkung über »Latinos« und fragte sie irgendwann, ob sie die Rolle der Frau im Leben des Künstlers verstehe.
    In einer eiskalten Nacht mitten im Winter schliefen sie und ich eingepackt in alte Decken unten auf zwei zusammenge
schobenen Einzelbetten. Mittlerweile war unser Beziehungsdreieck derart unerquicklich geworden, dass Lytle an den Tagen, an denen er ihr Auto hinter dem Haus entdeckte, früher als gewöhnlich zu trinken begann, während sie ihn längst nicht mehr amüsant fand – und auch nicht mehr harmlos, vermute ich. Ich war in einer abscheulichen Lage.
    Sie rüttelte mich wach und sagte: »Das Ding. Er versucht, mit dir zu reden.« Wir hatten eine dieser antiquierten Sprechanlagen, bei denen man einen großen Silberknopf drückt, wenn man sprechen will, und ihn wieder loslässt, um zuzuhören. Der Mann hatte in seinem ganzen Leben noch kein elektronisches Gerät beherrscht. Eines Morgens beim Frühstück – ich hatte den Fehler gemacht, nach einer durchgearbeiteten Nacht meinen Computer oben stehen zu lassen – schrie er mich an, weil ich ihm »den Feind ins Haus« geholt hatte, an »den Ort der Arbeit«. Aber mit der Sprechanlage kam er einigermaßen zurecht.
    »Er ruft nach dir«, sagte sie. Ich blieb liegen und lauschte. Es knackte.
    »Mein Liebster«, sagte er, »ich störe dich nur ungern in deinem Schlummer. Aber ich glaube, ich friere mich hier oben zu Tode .«
    »Lieber Himmel«, sagte ich.
    »Wenn du dich einfach . . . zu mir legen könntest.«
    Ich sah sie an. »Und jetzt?«
    Sie drehte sich weg. »Ich fänd's besser, wenn du nicht da hoch gingest.«
    »Was, wenn er stirbt?«
    »Meinst du, das könnte passieren?«
    »Keine Ahnung. Er ist zweiundneunzig und sagt, er erfriert.«
    » Mein Liebster . . .? « Sie seufzte. »Wahrscheinlich solltest du hochgehen.«
    Er sagte nichts, als ich ins Bett schlüpfte. Er schlief sofort wieder ein. Die Laken waren aus schwerem weißen Leinen
und teuer. Es schien, als lägen schattige Schneefelder zwischen seinem Körper und meinem. Ich driftete ab.
    Als ich im Morgengrauen erwachte, knabberte er an

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