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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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der Community den Gefallen getan, sein oder ihr Wissen systematisch darzulegen. Das Ergebnis war nichts Geringeres als ein Disney-Reiseführer für fanatische Kiffer. Es zeigte präzise, wo man am sichersten einen durchziehen konnte, und wies darauf hin, worauf man an den verschiedenen Orten achten musste. Abgeschiedene Fußwege, die nicht viel benutzt wurden, normale Raucherbereiche, die durch besonders hohe Hecken abgeschirmt waren, eine Ecke, an denen man sich neben einem kleinen künstlichen Fluss unter einer Brücke verstecken konnte – das waren hier die interessanten Orte. Die Anzahl der Besucher ließ darauf schließen, dass diese Liste schon vielen verzweifelten Menschen geholfen hatte.
    Die zentrale Botschaft war eindeutig: »Immer bereit sein, abzuhauen.«
     
    Am nächsten Morgen ergriff ich die langen Plastikstangen und zog die Vorhänge auseinander: Regen! Tja. Dann würden wir wohl im Hotel bleiben müssen und lesen.
    M. J. lachte. »Viel Erfolg, wenn du das Shell erzählst«, sagte sie. Als wir am Vorabend über unserer Disney-Planung gesessen hatten, war klar geworden, dass unsere Freundin weit mehr von der Haltung ihres Vaters zum Park geerbt hatte als gedacht. Sie war bereit, es krachen zu lassen, packte die Ausrüstung zusammen und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als ich das Wetter erwähnte – so als hätte ich sie nicht mehr alle.
    »Habt ihr Regenumhänge dabei?«, fragte sie.
    Als ich erwiderte, dass wir keine Regenumhänge besäßen, nur einen Regenschirm, sagte sie: »Wir können unterwegs noch welche kaufen.«
    Trevor zwinkerte mir von der Tür ihres Schlafzimmers aus zu, wo er Lil' Dog anzog. Alles wird gut, Alter . Er machte mit den Fingern die Dreh-Bewegung.
    Beide Familien passten in das Wohnmobil, also fuhren wir damit. Doch als wir in unsere Lücke auf einem der riesigen, leeren Disney World-Parkplätze einbogen, eingewiesen von einer Reihe alter Männer mit machtbesoffen versteinerten Gesichtern, regnete es zu stark, um auszusteigen. Sogar Shell würde warten müssen. Sie wirkte zappelig, wie sie da in ihrem feuchten Regenumhang saß, und starrte eher auf die beschlagenen Scheiben als hindurch. Eine DVD von den Backyardigans lief, den Hinterhofzwergen.
    Ich dachte an meinen verstorbenen Vater. Ich weiß nicht, warum. Er hätte uns niemals hierher gebracht. Hätte es nicht gekonnt. Disneyen wäre keine Möglichkeit gewesen für ihn. Man braucht dazu etwas wie . . . nicht unbedingt Willenskraft, aber Bereitschaft. In den langen Schlangen darf man nicht rauchen. Das hätte ihn verrückt gemacht. Die Anstrengung, viele Stunden lang so zu tun, als habe man Spaß, hätte ihn zur Ver
zweiflung getrieben; seine Reizbarkeit hätte allen den Tag verdorben. Am Ende hätte er versucht, es mit zotigen Witzen wiedergutzumachen, und wir Kinder hätten nicht anders gekonnt, als zu lachen. Meine Mutter hätte ihm diesen billig erkauften Sieg zu Recht übelgenommen, was zu Spannungen beim Abendessen geführt hätte. Danach Fernsehen.
    Nicht, dass wir niemals Spaß hatten – oder niemals in Florida Spaß hatten. Aber immer auf seine Weise. Nicht Disney World, nicht einmal SeaWorld – Ocean World in Fort Lauderdale, das war nach seinem Geschmack. Ein Meerespark, den es heute nicht mehr gibt, in dem man die Delfine streicheln und füttern durfte – solange man sich nicht an den Hautkrankheiten störte, die viele von ihnen im zu stark gechlorten Wasser entwickelt hatten. In Ocean World gab es sogar Affen und Krokodile (der Ozean ist ein weites Feld). Mein Vater, der über Baseball schrieb, war da unten, um über die Saisonvorbereitung zu berichten. Ich weiß nicht mal mehr, um welches Team es ging. Wir besuchten ihn eine Woche lang und wohnten in einem Motel, in dem wir wahrscheinlich die Einzigen waren, die nicht entweder stunden- oder monatsweise zahlten. Es gelang ihm irgendwie, ein Auto zu mieten, das man schon seit zehn Jahren nicht mehr kaufen konnte, einen gigantischen, weißen Ford LTD aus den späten Siebzigern. Heute wird mir klar, dass wir auf dieser Reise wie das letzte Pack aussahen, aber ich fühlte mich unglaublich wohl. Dad hatte sein Pabst Blue Ribbon und seine Schweineschwarten und Mentholzigaretten, was hätte da schiefgehen können? Ich dachte darüber nach, dass seine Verschrobenheit, trotz all der Probleme, die sie verursacht hatte (nicht zuletzt seinen Tod), auch einen Freiraum in meiner Kindheit geschaffen hatte, einen der wenigen Orte, an denen ich

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