Pulphead
Lieblingstasse benutzt, bespritzen wir ihn mit Kohlensäure, und dann rufen wir Mama an und winseln: »Keiner hier versteht mich.« Wir laufen halbnackt herum und verstecken ein Messer hinter unserem Rücken. Und immer ganz geradeaus, so sieht's aus (hört hört!). Niemals passiv-aggressiv, nein. Wir sagen es ihnen direkt ins Gesicht. Aber mit Tränen in den Augen . . . Bei Gott, in Realityshows sind mehr Tränen vergossen worden als von sämtlichen Kriegerwitwen dieser Erde. Sind wir so dünnhäutig, so verletzlich? Muss wohl so sein. Es gibt einfach zu viele von ihnen, zu viele Sendungen und zu viele Leute in diesen Sendungen, als dass sie uns nicht etwas Grundlegendes über uns selbst verraten würden. Das sind wir: ein Volk gefühlsduseliger Barbaren, weinend und Gewichte stemmend.
Der Clubauftritt reichte nicht für eine Reportage. Ich lud den Miz, Melissa und Coral zum Abendessen ein. Ich wollte herausfinden, ob sie echt waren. Ob nach all den Jahren, in denen sie dafür bezahlt wurden, sie selbst zu sein, noch ein Selbst übrig war, oder ob sie sich vielleicht schon langsam aus ihrer Existenz ausblendeten wie in einer Star Trek -Folge. Aber dann verlor ich diese Frage aus den Augen. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man einfach nur abhängt. Ich fing an, ihnen von meinen Lieblingsmomenten zu erzählen. Wie Randy und Robin in der San-Diego-Staffel mal oben auf der Terrasse saßen und zusammen einen tranken. Big Ran erläuterte Robin seine persönliche
Philosophie, unter anderem sein Einverständnis mit erkenntnistheoretischen Zweifeln, etwas, das er »Agnostismus« nannte. Als Robin ihn (sehr nett, wie ich fand) zu seiner philosophischen Seite beglückwünschte, die sie bisher noch gar nicht bemerkt hatte, sagte Big Ran: »Ich teile mein Wissen gerne mit dir.«
Ich mochte Big Ran. Er war, wer er war – wie der Miz richtig sagte: Er konnte nicht anders. Er war so einer, der einem immer sagt, was für einer er ist. Vor ein paar Monaten wäre ich ihm fast einmal begegnet. Ein Reiseveranstalter hatte eine Real World -Kreuzfahrt in die Karibik angekündigt. Big Ran und Trishelle (die größte Südstaaten-Schlampe der Real World -Geschichte) sollten mitfahren. Ich besorgte mir Tickets. Meine Vorfreude wuchs. Aber letzten Endes haben sie uns verarscht. Die Kreuzfahrt wurde gestrichen. Keine Ahnung, warum, ob zu wenige Tickets verkauft wurden oder was, aber kurz hatte ich die Vorstellung, der einzige Mensch zu sein, der die Reise gebucht hatte. Ich stellte mir ein Szenario vor, bei dem die Kreuzfahrtgesellschaft aufgrund einer vertraglichen Spitzfindigkeit gezwungen wäre, die Sache trotzdem durchzuziehen. Ich stellte mir vor, wie ich mit Big Ran und Trishelle in See stechen und auf unserem Geisterschiff übers Meer treiben würde. Wir würden uns von der Füllung der Sofakissen ernähren. Auf jeden Fall würde es Tränen, Ringkämpfe und was nicht alles geben, aber am Ende . . .
Der Miz, Coral und Melissa konnten sich nicht erinnern – sie wussten auch nicht mehr, dass Big Ran gesagt hatte, dass er gerne sein Wissen teile. Ich hatte den Eindruck, dass sie die Show gar nicht verfolgten, zumindest nicht, seit sie selbst dabei waren. »Es ist schwierig«, sagte Coral, »weil man es besser weiß. Man weiß, dass das alles nicht so ist.«
Ich brauchte zwanzig Minuten, um zu verstehen, was mit unserem Gespräch nicht stimmte: Es machte mir Spaß. Nor
malerweise ist man angespannt, wenn man Fremde befragt, man hat Angst vor einer Blockade oder dass man vergisst, die einzige wichtige Frage zu stellen. Aber seit wir uns hingesetzt hatten, war ich völlig entspannt. Und dann sah ich, dass dieses Licht, ein bebendes, bläuliches Licht, das über ihre Gesichter spielte, genau das Licht war, in dem ich sie kannte. Ich hatte sie instinktiv in einen Laden namens Blue on Blue in Beverly Hills gebracht, in dem es neben dem Pool offene Badehütten gibt, und in einer von denen chillten wir, und das Licht spielte über ihre unglaubliche, makellose Haut. Wie oft hatten wir schon so gesessen, am Rande von Pools und Jacuzzis? Wie oft hatten wir schon so abgehangen, getrunken, diskutiert? Tausende Male. Mein Nervensystem war überzeugt, dass wir auf Sendung waren.
»Ja«, sagte der Miz, »das ist das Gute und das Schlechte daran, in einer Realityshow zu sein.« Er hatte einen Wodka-Drink in der Hand (jeder weiß, dass klarer Alkohol auf Dauer besser für den Darm, die Prostata und so weiter ist – außerdem, betont
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