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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Abend durchhalten würde, dann aber hatte er den Entschluss gefasst, »sich am Riemen zu reißen«. Dazu kam, dass er es in der Nacht zuvor richtig hatte krachen lassen. Er war mit MJ und Landon, zwei männlichen Teilnehmern der aktuellen Real World -Staffel, in einem Club in Austin aufgetreten. Da waren so, sagen wir mal, zweihundertachtzig Leute. Der Laden hat gebrummt, Mann!
    Mittlerweile ist es eine Binsenweisheit, dass sich jede Real World -Besetzung nach demselben Prinzip zusammensetzt: Da gibt es die Schlampige, die Süße, den Mischling, den Schwulen, die nette Schlampe aus dem Süden und so weiter. MJ und Lan
don waren zwei Wiedergänger des Miz, wenn Sie verstehen, was ich meine – muskulöse weiße Typen aus winzigen Städten, die von nichts eine Ahnung haben, im multikulturell-urbanen Sinn, die dann aber sehr schnell lernen und am Gelernten wachsen. Der Miz hat den Scheiß erfunden, klar. MJ und Landon hoben die Typisierung in neue Höhen, indem sie bestürzend gleich aussahen, mit ihrem gelockten blondes Engelshaar und ihrem starren Blick, der nie Furcht gekannt hatte. Sie versetzten einen in Angst und Schrecken, und zwar bevor Landon hackedicht und halbnackt mit einem Schlachtermesser hinter dem Rücken in der WG stand. Beide waren natürlich extrem beliebt, auf jeden Fall werden sie viel in Clubs gebucht. So wie der Miz. Der macht das seit Jahren.
    Ich fragte ihn: »Mike« – das ist sein richtiger Name – »Macht dich dieses Leben nicht fertig?«
    Und er: »Klar, aber ich passe auf mich auf, Alter. Erstens: Ich trinke nie durcheinander. Wenn ich Wodka trinke, bleibe ich beim Wodka. Bei Kurzen wird's allerdings schwierig. Jemand gibt dir 'nen Kurzen, da kannst du schlecht ›Kann ich was anderes haben?‹ sagen. Aber meistens . . .«
    »Aber was ist mit deiner Seele?«, fragte ich. »Wie schützt du deine Seele?« Er sah in sein Glas . . .
    Ha, reingefallen! Das habe ich ihn nicht gefragt.
    Ein paar Mädels kamen rüber und quetschten den Miz über die Staffel aus, die gerade auf MTV lief. War die-und-die wirklich so eine eiskalte Schlampe? War der-und-der wirklich so nett, wie er aussah? Würde Miz' Team gewinnen?
    Der Miz spitzte die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. Er kannte diese Momente – er kennt sie seit Ewigkeiten. Ein absolutes Tabu mit unmittelbaren Konsequenzen. Niemals spricht man über zukünftige Folgen. Ein Mädchen sagte: »Ich mag diese eine nicht. Wie heißt die noch – nicht Veronica, aber irgendwie erinnert sie mich an Veronica. So'ne Kleine. Braune Haare, große Titten.«
    Der Miz schien verblüfft. Wer könnte wie Veronica aussehen? Kleine, fiese Veronica, Königin des Badewannendreiers, die zierliche und vollbusige Vielleicht-Lesbe, die fast in den Tod gestürzt wäre, weil Julie, die durchgeknallte Mormonin, während eines Hochseil-Rennens an ihrem Gurtzeug herumgefummelt hatte?
    »Meinst du Tina?«, fragte ich.
    »Genau! Tina!«, sagte das Mädchen.
    Der Miz sah mich an. »Verdammt, Alter . . . Du bist gut.«
    »Na ja . . .«
     
    Es gab mal eine Zeit, in der die Leute gerne darauf hinwiesen, dass Reality- TV gar nicht wirklich echt war. Die machen das nur für die Kameras! Das ist inszeniert! Die Produzenten schreiben ihnen vor, was sie tun sollen! Ich hasse diese Arschlöcher! Und so weiter. Es folgte eine Art deuxième naïveté , als die Leute überlegten, ob die Sendungen vielleicht doch etwas Reales hatten. Denn seien wir doch mal ehrlich: Dieser Narzissmus, das sind tatsächlich wir! Das ist eine Abbildung unserer Kultur! Reality- TV ist eine Art Fenster, durch das wir bestimmte . . . Solche Sachen. Ich würde allerdings behaupten, dass sie alle das wirklich Interessante an Reality- TV übersehen, nämlich die Art, wie es sich die Realität erfolgreich zu eigen gemacht hat.
    Am Anfang, 1992, als The Real World auf Sendung ging und die grundlegenden Muster etablierte, an denen sich Reality- TV fortan orientieren würde, war das Spiel plump und offensichtlich – war sich eine Figur »der Kameras bewusst« oder »vergaß sie die Kameras« für eine Weile? Darum ging es damals, bevor Reality- TV die gesamte Fernsehlandschaft überwucherte, gedüngt von Quoten und fast nicht existenten Produktionskosten, und bevor dann ziemlich schnell jedermanns Mutter, Schwager oder Exfreundin in irgendeiner Show zu sehen war – bevor Realityshow-Castings zu einer Art Initiationsritus wurden, wie die erste eigene Wohnung oder das erste

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