Pulphead
keinerlei Anlass gegeben hätte. Aber von all den Dingen, die Michael unbegreiflich gemacht haben, ist der Glaube, ihn verstanden zu haben, der irreführendste. Wir sollten ihm nicht weiter anhängen.
Fangen wir nicht mit der TV -Serien-Kindheit und Josephs endlosen Probesessions mit der Familie an, sondern mit der späteren und, wie es scheint, genauso prägenden Motown-Kindheit, als Michael ungefähr zwischen elf und vierzehn war – Jahre, die er, sofern er nicht gerade auf Tour war, meistens alleine verbrachte, hinter Sicherheitsmauern, mit Privatlehrern und geheimen Notizbüchern. Ein Hans-Guck-in-die-Luft, der Regenbögen mag und Bücher. Der anfängt, exotische Tiere zu sammeln.
Seine ältesten Brüder sind irgendwann mal Kinder gewesen, die davon träumten, Kinderstars zu sein. Einen solchen Wunsch kann Michael nie entwickeln. Als er alt genug ist für so etwas wie Eigenwahrnehmung, ist er bereits ein Kinderstar. Und der Kinderstar träumt davon, Künstler zu sein.
Wenn er für sich ist, legt er Klassik-Platten auf, weil er gemerkt hat, dass sie ihn beruhigen. Auch die alten Südstaaten-Sachen, die sein Onkel Luther singt, gefallen ihm. Sein Onkel schaut ihn an und findet, dass Michael traurig wirkt für sein Alter. Da sind wir schon in Kalifornien, das arme, braune Gary in Indiana mit seiner vergifteten Luft, die man weit über die Stadtgrenzen hinaus riechen konnte – durchaus möglich, dass die zehn Jahre, in denen Michael dieser Luft ausgesetzt war, sein Immunsystem schon nachhaltig geschädigt haben –, gehört bereits der Vergangenheit an.
Er macht sich über vieles Gedanken, und manchmal, wenn sie zusammensitzen, spricht er mit seinen Freunden Marvin Gaye und Diana Ross darüber. Er hört sich Alben an und vergleicht. Auf den Alben, die er und seine Brüder machen, sind immer ein paar gute Stücke, die die Platte verkaufen sollen, dazu jede Menge B-Ware, um dem LP -Format Genüge zu tun. Bei Leuten wie Tschaikowsky dagegen, da gab es keine Nieten. Aber man muss seine eigenen Lieder schreiben. Michael hat schon immer Melodien im Kopf gehabt, kleine Riffs und Beats. Aber das ist nicht dasselbe. Bei Motown läuft es so, dass Song
writer-Teams in verschiedenen Städten fertige Jackson-5-Songs liefern. Die Brüder werden dann zum Einsingen und zur Ergänzung kleiner Akzente ins Studio geholt.
Michael möchte Zugang zur »Anatomie« der Musik. Dieses Wort benutzt er immer wieder. Anatomie. Was in ihrer Struktur setzt Musik in Bewegung?
Als er siebzehn ist, bittet er Stevie Wonder, bei der Produktion von Songs in the Key of Life dabei sein zu dürfen. Man stelle sich Michael vor, unsicher, schüchtern und voller Ehrerbietung, wie er sich mottengleich gegen die Wand des Motown-Studios drückt. Stevies Blindheit ist in diesem Zusammenhang irgendwie anrührend. Zweifellos nimmt er Michaels Anwesenheit über weite Strecken nicht wahr. Bittet ihn nie, eine Rassel oder irgendwas zu spielen. Erwähnt ihn nie. Aber Michael hört ihm zu. Die meisten der Jackson-Geschwister verlassen in dieser Zeit Motown und wechseln zu einem anderen Label, bei dem sie einen etwas größeren künstlerischen Spielraum durchgesetzt haben. Das Erste, was Michael schreibt, ist »Blues Away«, ein zu Unrecht vergessener Song, dessen Schicksal es ist, eines der am wenigsten veraltet klingenden Stücke zu werden, das die Jacksons gemeinsam aufnehmen. Ein hübsches, rollendes Klaviermotiv, darüber Streicher und ein gehauchter Refrain – Burt Bacharach, wenn der wie Stevie Wonder in einem frühen Discostück klingen würde, dazu etwas ganz Eigenes von Michael, das im introvertiert klingenden Rhythmus der Gesangsspur steckt. Ein lieblicher, leicht kryptischer Text, der erste Anklänge von Melancholie als letztem geschützten Zufluchtsort enthält: »I'd like to be yours tomorrow, so I'm giving you some time to get over today / But you can't take my blues away.«
1978, dem Jahr von »Shake Your Body (Down to the Ground)«, gemeinsam geschrieben von Michael und dem kleinen Randy, haben sich seine Methoden eingespielt. Er fängt immer mit dem Tonbandgerät an. Er singt und beatboxt die Schnipsel, die er hört, die einzelnen Stimmen. Woher die kommen? Von oben.
Er behauptet, jedes Mal, wenn er einen solchen Schnipsel aufgeschnappt hat, auf die Knie zu fallen und Jehova zu danken. Von seinem Gesangslehrer stammt die Geschichte, wie Michael eines Tages während der Stunde die Hände in die Luft hebt und vor sich hinzumurmeln beginnt.
Weitere Kostenlose Bücher