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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Der Lehrer, Seth Riggs, beschließt, ihn alleine zu lassen. Als er eine halbe Stunde später wiederkommt, soll Michael geflüstert haben: »Danke für meine Gabe.«
    Manche der Dinge, die Michael in seinem Kopf hört, überträgt er auf ein anderes Instrument, aufs Klavier (das er nicht gut, aber passabel spielt) oder auf den Bass. Die Melodie und ein paar perkussive Elemente verbleiben bei seiner Stimme. Den Rest arrangiert er darum herum. Es gibt ja noch seine Brüder und Schwestern. Er dirigiert.
    Seine Kunst wird fortan von seiner Fähigkeit abhängen, den Kontakt zu halten zu diesem kindlichen inneren Instrument, so nah bei sich zu bleiben, um den eigenen melodischen Eingebungen folgen zu können. Wer schon mal dem Singsang von Kleinkindern gelauscht hat, der weiß, dass ihre spontanen Erfindungen oft erstaunlich eingängig und raffiniert sind. Aus der Off the Wall -Phase gibt es ein Demo vom späteren Thriller -Hit »Wanna Be Startin' Somethin'«, auf dem Michaels Gesang an nichts so sehr erinnert wie an spielerische Schulhof-Hänseleien. Schlecht wird er immer dann sein, wenn er macht, was er sich unter »großer« Musik vorstellt, denn die bringt er ausnahmslos mit militärischen Motiven in Verbindung.
    1979, das Jahr von Off the Wall und seiner ersten Nasen- OP , markiert eine undurchsichtige Krise. Zu Beginn dieses Jahres wird ihm die schwule Hauptrolle in der Filmfassung von A Chorus Line angeboten, die er mit folgender Erklärung ablehnt: »Ich hätte große Lust, aber wenn ich das mache, wird man mich mit dieser Rolle identifizieren. Wegen meiner Stimme denken sowieso schon manche, dass ich so bin, also homo, aber das stimmt überhaupt nicht.«
    Man will wissen: Hatten Sie denn, als Sie zum Mann wurden, keinen Stimmbruch? Dabei änderte sich seine Stimme durchaus, doch zu was wurde sie? Wenn man sich Interviews aus verschiedenen Phasen der Siebziger anhört, kann man verfolgen, wie er daran arbeitet, seine Stimme zu verändern. Zuerst, um 1972, 1973 herum, wird sie etwas tiefer. (Wer ihn als Vierzehnjährigen in der Fernsehshow The Dating Game von 1972 sieht, hört eine tiefere Stimme als die des Dreißigjährigen.) Dieses potenziell katastrophische Ereignis hatten Familie und Label wahrscheinlich seit Jahren gefürchtet. Michael Jackson ohne sein Falsett ist nicht mehr die Ware, von der ihr kollektiver Traum abhängt. Michael wiederum hat noch nie die Erfahrung einer Realität gemacht, die sich vor seiner schöpferischen Kraft sperrt. Er arbeitet daran, etwas zu entwickeln – kein Falsett, mit dem man oberhalb seines natürlichen Stimmumfangs singt, sondern einfach einen höher gelagerten Stimmumfang. Er isoliert vollkommen andere Bereiche und Stellungen seiner Stimmbänder, entdeckt neue Ritzen und Spalten und trainiert deren Flexibilität. Gesangslehrer sagen, dass das geht, aber als extreme Praxis erachtet wird. Ob dieser Prozess in Michaels Fall bewusst abläuft, liegt jenseits jeder Erkenntnis. Wahrscheinlich entwickelt er diese Technik während der Pubertät, um weiter jeden Abend Jackson-5-Songs singen zu können. Im Endeffekt hat er sich so auf überraschend schöpferische Weise weniger kastriert als vielmehr verfraulicht. Eigentlich entwickelt er eine Drag-Stimme. Auf einer frühen, zu Hause mit Hilfe von Randy und Janet aufgenommenen Demoversion von »Don't Stop 'Til You Get Enough« kann man geradezu hören, wie er sich in diese Stimme hineinarbeitet. In diese Kunstfigur. »We're gonna be startin' now, baby«, sagt er erst mit entspannter, gemäßigt hoher Männerstimme. Dann intoniert er den Songtitel: »Don't stop 'til you get enough«, in einer weicheren, leiseren Version der im Grunde genau gleichen Stimme. Er wiederholt die Zeile in einer noch höheren Stimmlage, fast schnurrend. Und schließ
lich singt er – mit einer glockenhell perlenden Mädchenstimme.
    Eine Zeugin wird später behaupten, dass Michael einmal in einem Augenblick des Zorns in eine tiefe, barsche Stimme ausbrach, die sie nie zuvor gehört habe. Auch Liza Minnelli gibt an, diese andere Stimme gehört zu haben.
    Interessant, dass dieses Aufblitzen seiner »natürlichen« Stimme immer in Situationen passierte, in denen er, wie man sagen würde, nicht er selbst war.
    Im Internet gibt es ein Bild von ihm kurz vor seinem Lebensende, daneben eine digital erstellte »Hochrechnung« seines vermutlichen Aussehens im selben Alter, aber ohne Operationen, Schminke und Perücke. Es ist das Bild eines lächelnden, auf landläufige

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