Pulphead
zurück im alten Motown-Gebäude, um irgendein Video abzumischen, als Berry Gordy zu ihm kommt und fragt, ob er bei der NBC -Sondersendung zum fünfundzwanzigsten Labeljubiläum dabei sei. Michael zögert. Ein klaustrophobischer Moment für ihn. Dieses ganze Business, seine Brüder, Motown, die Jackson 5, die Vergangenheit: Das alles ist ein Kokon, in dessen Inneren er sich gewunden und durch den er sich endlich nach außen gebissen hat. Er weiß, dass »Billie Jean« eingeschlagen ist wie eine Bombe, er weiß, dass er gerade zu einem ganz anderen wird. Aber wie ein Tier wittert sein Ehrgeiz die Gelegenheit. Er handelt mit Gordy den legendären Deal aus, dass er sich zusammen mit seinen Brüdern auf die Bühne stellen wird, wenn er die Er
laubnis bekommt, auch einen seiner eigenen Post-Motown-Hits zu bringen. Gordy willigt ein.
Was Michael dann – in Anbetracht des Kontextes und der Tatsache, dass seine Brüder gerade erst die Bühne verlassen haben, die Mr. Berry Gordy gehört – mit seinem Moment macht, ist unverschämt. In den YouTube-Clips von diesem Auftritt, die mittlerweile Kultstatus erreicht haben, ist Michaels Vorrede meist weggeschnitten, weswegen es sich lohnt, das Ganze auf DVD anzuschauen (auf der übrigens auch einer der letzten Auftritte von Marvin Gaye vor seiner Ermordung zu sehen ist).
Verschwitzt stolziert Michael über die Bühne. »Danke . . . Oh, ihr seid wunderbar . . . Danke«, sagt er, vor lauter Sexiness fast lallend. Man merkt ihm an, dass er bei den Jackson-5-Songs Nerven gelassen hat. Jetzt gehört ihm der Raum wie das Innere seines Käfigs. Abermillionen Augen ruhen auf ihm.
»Ich muss sagen: Das waren die guten alten Zeiten«, schwadroniert er weiter. »Ich liebe diese Songs, es waren magische Augenblicke mit meinen Brüdern, auch mit Jermaine.« (Der Hang der Jackson-Familie, in entscheidenden Momenten passiv-aggressive Schläge auszuteilen, ist außergewöhnlich; bei Michaels Beerdigung wird Jermaine sagen: »Ich war seine Stimme und sein Rückgrat, ich habe immer hinter ihm gestanden.« Um dann hinzuzufügen, als fiele ihm gerade ein, sich auch noch bei seinem Agenten zu bedanken: »Wie die gesamte Familie.«)
»Es waren gute Songs«, sagt Michael. »Mir gefallen die Songs sehr, aber ganz besonders gefallen mir« – seine Stimme weicht für eine Sekunde vom Mikro zurück, was die Authentizität des Live-Auftritts derart strahlen lässt, dass einen dieses Strahlen fast festnagelt – »die neuen Songs.«
Unbändiges Kreischen. Er greift nach dem Mikrofonständer so, wie James Brown immer danach gegriffen hat: als ob der Ständer einen Hals hat und er ihn erwürgen will. Die Leute auf den Plätzen schreien: »Billie Jean! Billie Jean!«.
Ich werde die Einzigartigkeit dessen, was er als Nächstes tut, nicht mit Worten zukleistern, will allerdings auf etwas hinweisen, das man ansonsten eventuell übersieht (weil es so offensichtlich ist): Er tut es vollkommen allein. Die Bühne ist überwältigend leer. Die Silhouetten der Orchestermitglieder klatschen ganz hinten im Dunkeln. Wenn man den glitzernden Handschuh – der laut einer Quelle dazu da war, die fortgeschrittene Weißfleckenkrankheit zu kaschieren, die seine linke Hand entstellte – nicht mitzählt, hat Michael nur ein einziges Requisit dabei: einen schwarzen Hut. Und den wirft er fast sofort weg. Bühne, Tänzer, Scheinwerfer. Er schnappt sich das Mikro vom Ständer wie aus den Händen eines nervigen Kindes.
Mit dem Handwerkszeug eines Mimen macht er im Folgenden das möglicherweise Fesselndste, was ein Mensch je vor Zeugen auf einer Bühne gemacht hat. Richard Pryor, der wahrlich nicht dafür bekannt war, ein Schleimscheißer zu sein, geht hinterher zu Michael und sagt schlicht: »Das war der großartigste Auftritt, den ich je gesehen habe.« Fred Astaire nennt ihn den »größten lebenden geborenen Tänzer«.
Michael gesteht Ebony : »Ich erinnere mich ganz genau an diese Performance, und ich erinnere mich deshalb so gut, weil ich mich so über mich geärgert habe, denn das war nicht, was ich wollte. Ich wollte mehr als das.« Am Ende des Moonwalks noch länger mit gebeugten Knien auf Zehenspitzen stehen, heißt es. Wenn man richtig hinsieht, kippt er zwar von seinen Zehen, aber mit perfektem Timing, und lässt den Fall zum Teil einer Drehung werden. Genauso wischt er sich gegen Ende exakt getaktet den Schweiß von der Oberlippe.
Die Gefühlstiefe hinter seinem Gesicht sieht unerträglich
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