Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
Vom Netzwerk:
Bürgerkriegs. Diese Leute erinnerten mich an jene alten Russen, die jeden Winter mit pro-sowjetischen Plakaten aus ihren Löchern kriechen. Sie waren die bizarre kapitalistische Spiegelung dieser Nostalgie für den Kalten Krieg, ihre Siegerversion. Die meisten kamen aus Langeweile und Frustration. Und es war auch nicht so, dass man sich nicht doch mit der Hälfte dessen, was sie sagten, irgendwie identifizieren konnte. Die meisten Kritiker zentralistischer Regierungsapparate haben wahrscheinlich mit dem ein oder anderen Punkt nicht ganz unrecht. Zudem schien mir die Hoffnung nicht ganz abwegig, dass es auch sein Gutes haben könnte, wenn so viele Amerikaner sich mit politischen Entscheidungen auseinandersetzten und fragten, ob diese Entscheidungen im Einklang stehen mit den vornehmsten Hoffnungen, die wir für dieses Land hegen.
    Zwar las man beunruhigende Nachrichten, etwa im Boston Globe , der berichtete, der Secret Service habe große Mühe, der seit Obamas Amtsantritt exponentiell gestiegenen Morddrohungen Herr zu werden. Und Leute wie Sean Hannity, die Karriere gemacht und einen Status zu verteidigen hatten und daher daran interessiert sein sollten, keine allzu radikalen Positionen zu beziehen, begannen, im Radio recht gewagte Dinge zu sagen. Man tat ganz offen so, als sei die Obama-Regierung eine proto-totalitäre Schlägertruppe, die bald auch in Ihrem
Wohnzimmer stehen würde. (Wohlgemerkt: Wir reden von einer Regierung, die nicht in der Lage war, eine verwässerte Gesundheitsreform nach europäischem Vorbild durch den Kongress zu bringen, ohne dabei eine nationale Krise heraufzubeschwören.) Bisweilen drängte sich beinahe die Frage auf, ob da jetzt nicht der alte amerikanische Caliban zum Vorschein kam, dieser Teil von uns, der zwar weiß, was richtig wäre, der sich dann aber doch lieber eine Schlägerei anschaut.
    Am 23. September berichtete die Nachrichtenagentur AP in einer kurzen Meldung, am Tag des »Marsches des 12. September«, in dem Moment, als wir uns den Stufen des Kapitols näherten, hätten entsetzte Touristen in der Nähe von London im Südosten Kentuckys die Leiche eines Volkszählers aus der Gegend gefunden. Viele der Radiomoderatoren, die von den Demonstranten wie Propheten verehrt wurden, hatten ihre Hörer zum Boykott der Volkszählung aufgerufen: Der Zensus sei ein Tentakel der Regierung, mit dem sie in unser Privatleben und unser Eigentum eindringen wolle. War dieser Mord ein erster Warnschuss der radikalen Rechten? Das Magazin schickte mich hin.
    »Du fährst nach London?«, fragte mein Cousin, und fast automatisch sagten wir beide: »Warum Kentucky verlassen, wenn es dort Paris, Athen und London . . .« (Ein alter Witz.)
    Ich war noch nie in London gewesen, zumindest nicht in London, Kentucky. Ich wusste, dass wir uralte Wurzeln in diesem Teil des Staates hatten. Auf dem Weg las ich auf Plakatwänden immer wieder den Mädchennamen meiner Mutter. Ohne Zweifel würde der Geist des Ortes spüren, dass sich mit diesem Besuch nach langer Zeit ein Kreis schloss, und mich wie einen Einheimischen begrüßen. Leider machte die örtliche Polizeichefin dann einen ziemlich verärgerten Eindruck, meine Anwesenheit schien sie geradezu anzuwidern.
    »Warum sind Sie hier?«, fragte sie mich, wobei sie mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand lehnte.
    Ich hielt das für einen Scherz, denn allein im letzten Monat waren mehr Reporter nach London gekommen als in den letzten zehn Jahren zusammen. Alle hatten dasselbe gewollt. »Nun«, sagte ich mutig. »Sie wissen doch, warum ich hier bin.«
    »Nein, das weiß ich nicht«, sagte sie kühl. » Was suchen Sie hier? «
    Sie sah aus, als habe man die Fernsehmoderatorin Nancy Grace in die Uniform der Nationalgarde gesteckt. Sie war jünger, und ihrem Haar fehlte wohl die Magneto-Helm-Kraft der Frisur der berühmten Crime-Show-Moderatorin – ich stelle mir immer vor, dass die Produzenten kurz vor Beginn der Aufzeichnung in einem abgedunkelten Raum den Haarhelm ganz langsam auf ihren Kopf herablassen, während sie bewegungslos dasitzt und sich vorbereitet –, aber die Silhouette der Polizeichefin und ihr spöttisches, abweisendes Lächeln waren gleich.
    »Das ist interessant«, sagte ich (in der Hoffnung, dass sie ein »Auch Ihnen einen schönen Tag, Beschützerin unseres geliebten Gemeinwesens« heraushören würde). »Glauben Sie nicht, dass es hier eine Geschichte gibt?«
    Man hatte Bill Sparkman, den Volkszähler, in einem angrenzenden,

Weitere Kostenlose Bücher