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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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überwiegend bewaldeten County gefunden, nackt an einen Baum gefesselt. Jemand hatte mit einem dicken Filzstift » FED « auf seine Brust geschrieben und seinen Dienstausweis an seinen Nacken gepinnt, wie man sonst erlegtes Wild kennzeichnet. Kurz zuvor hatte eine rechte Kongressabgeordnete aus Minnesota ihre Mitbürger im Fernsehen daran erinnert, dass man die japanischstämmigen Amerikaner im Zweiten Weltkrieg mittels einer Volkszählung zusammengetrieben und dann in Internierungslager gesteckt hatte. Das war mir nicht bekannt, ich hatte gerade erst erfahren, dass Sparkman am Tag des Marsches von Washington gefunden worden war. Es sah aus wie ein regierungsfeindlicher Lynchmord.
    Das FBI schaltete sich ein, aber die Londoner Polizei leitete die Ermittlungen, und nach sechs Wochen war man gerade einmal so weit, dass man offiziell von einem Tötungsdelikt sprach. Jetzt erzählte mir die Polizistin – eins der wenigen Dinge, die sie mir überhaupt erzählen würde –, die Polizei wolle die Geschichte mit dem Lynchmord »im Keim ersticken«. Die Leiche des Volkszählers hatte man eingeäschert. Die Polizeichefin behauptete, sie warte immer noch auf die Ergebnisse der forensischen Untersuchung.
    Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mein eingebauter Story-Sensor blinkte grün!
    Sie gab mir ihre Visitenkarte. Gegen Ende des Gesprächs war sie sogar einigermaßen nett. Ich verstand, wie sehr es an jemandem, der – wie sie – aus der Gegend stammte und diesen Teil des Landes liebte, nagen musste, wenn plötzlich lauter Auswärtige mit ihren Wahrheitsansprüchen hereinplatzten. Leute, die diesen Staat sonst nur während des Kentucky Derbys zur Kenntnis nahmen oder wenn etwas außergewöhnlich Schreckliches geschah, und die zu den »irren Landeiern gebracht werden wollten, die den Mann von der Regierung umgebracht haben« (das war im nahegelegenen Manchester tatsächlich passiert). Die Polizistin wusste, was Amerika über sie und ihre Kollegen dachte. Sie wusste auch, dass sie gute Arbeit machte. Die Kombination musste sie ärgern.
    Ihr Assistent, ein Beamter, der während des Interviews schweigend dabeigestanden hatte, sagte nur einen bemerkenswerten Satz, nämlich dass er überzeugt sei, dass man über diesen Fall noch lange sprechen würde – ganz egal, wie er ausgehe.
    Sie wünschten mir Glück.
     
    Der Friedhof, auf dem Bill Sparkman gestorben war, lag malerisch an einem Hang, wie man sie in der zerklüfteten Höhlen-und-Hügel-Landschaft im Südosten Kentuckys häufig findet.
Kentucky kann manchmal atemberaubend schön sein, wenn sich eine kleine Straße plötzlich zu einer Lichtung öffnet. Wenn Sparkman sich hier aufgehängt oder erdrosselt haben sollte, wie manche glauben, hatte er sich eine dramatische Kulisse ausgesucht. Die Touristen aus Ohio, die Sparkmans Leiche entdeckten, als sie die Gräber von Angehörigen besuchten, und die den starken Eindruck hatten, dass er sich nicht selbst umgebracht hatte, sondern grausam ermordet worden war, sagten später Reportern gegenüber, es habe so ausgesehen, als solle Sparkman genau so gefunden werden.
    Der Friedhof liegt wie eine Treppe aus verwittertem Fels am Rand eines natürlichen Amphitheaters, in den tiefsten Festen des Daniel Boone National Forest. Ich bezweifle, dass ich den Ort ohne das Navigationssystem des Mietwagens gefunden hätte (obwohl der Friedhof in der Nähe einer Hütte lag, die meinen Vorfahren gehört hatte und in der ich als Kind einmal gewesen war – wir waren in irgendeinem Jeep durch ein Flussbett gefahren, und mein Bruder hatte eine alte Flasche mit Quacksalber-Medizin entdeckt, versteckt in einer Ritze der Küchenwand).
    Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass es möglich war, auf so einem steilen Hügel tatsächlich Menschen zu begraben. Die Gräber hatte man zwangsläufig fast terrassenartig angelegt, es gab kleine hölzerne Stühle und Bänke, weil man nicht stehen konnte. Grab um Grab ging es aufwärts. Ich brauchte eine Viertelstunde, um auf den Kamm zu klettern. Beim Aufstieg bewegte man sich rückwärts durch die Generationen der Familie Hoskins, erst kamen moderne Grabsteine mit laminierten Fotos von Typen mit E-Gitarren, dann ältere Betonplatten mit plumper Beschriftung und Schreibfehlern, schließlich flache Steine aus dem Fluss, die die längst unleserlichen Initialen der Ur-Hoskinses trugen. Weiter oben, jenseits der Gräber, schritt man auf einem schweren Teppich aus Moos und Flechten, Arten, die aus anderen

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