Pulphead
Massachusetts, der über und über von den verschlungenen Petroglyphen der Ureinwohner bedeckt ist. Jan zeigte mir die Seiten in Mallerys Buch – ich kannte sie aus der Taschenbuchausgabe, aber auf diesen Abbildun
gen glänzte ein tiefes Schwarz –, auf denen der Autor Zeichnungen aus mehr als zweihundert Jahren ziemlich genial reproduziert hatte. Er hatte sie beschnitten, sie waren alle gleich lang und gleich hoch, und dann hatte er sie in chronologischer Reihenfolge arrangiert. Es war eine Tür zur Geschichte; man konnte durch sie für kurze Zeit die amerikanische Seele betreten. Man sah den Wandel: Anfangs hatten die verschiedenen Künstler versucht, »Hieroglyphen« nachzuahmen, die sie kannten – ägyptische, nordische, was auch immer. Oder sie machten sie zu anachronistisch modernen Dingen, einem Segelboot oder einem Pilger. Wenn man dann die Jahrhunderte im Daumenkino vorbeiziehen lässt, entwirren sich die Linien, und man erkennt Menschen und Vierfüßler. Von Bedeutung sind wir immer noch meilenweit entfernt. Tatsächlich ist genau das passiert: Das Auge löst sich vom Wunsch nach Bedeutung, und die Bilder treten hervor. Simek zeigte mir die Seiten Mallerys, um mir zu demonstrieren, wie gefährlich es ist, etwas zu lesen, das man gar nicht lesen kann. Und wir können es nicht lesen.
Versuch erst mal, es zu sehen. Das ist schwer genug.
Von Knoxville aus fuhren wir westwärts Richtung Plateau. Die Felder im mittleren Tennessee waren im Oktober kühl und grün, Raureif wie Milchglas. Während wir Fast-Food-Biscuits aßen, erzählte Simek über das Ziel unserer Reise, die Zwölfte Namenlose. »Die ist wirklich großartig«, sagte er. Es gebe dort über dreihundert Bilder, ein paar davon so klein, dass man die Augen zusammenkneifen müsse.
Es war nicht nur diese eine Höhle. In dieser Gegend kannte man damals schon eine ganze Handvoll (heute sind es mehr), die sich im Stil ähnelten. Nummer Zwölf war eine davon. Die Wissenschaftler hatten in einer Höhle noch nie etwas Ähnliches gesehen. Nirgendwo hatte irgendjemand etwas Derartiges gesehen. Sie waren weder als Woodland- noch als Missis
sippi-Malereien identifizierbar, obwohl die Datierung (in diesem Fall etwa 1160) sie genau an der Woodland/Mississippi-Schwelle verortete. Jan vermutete, dass diese besonderen Höhlen Überbleibsel einer örtlich begrenzten, regionalen Woodland-Kultur waren, ehe diese vom Southern Death Cult ausradiert oder einverleibt wurde.
Wir rumpelten durch ein Tor und direkt auf ein Farmgelände, eine weitere Stätte, die von diskreten Landbesitzern beschützt wurde. Wir legten die Ausrüstung an und liefen über ein Stoppelfeld, wir wichen Kuhmist und weißen Pilzkolonien aus. Nach ein paar hundert Metern ging es leicht, aber merklich bergab. Wir erreichten ein altes »Waschbecken« – eine Senke, die durch den Einsturz einer Kammer im Kalkstein entstanden war. In der Mitte dieser grünen Schüssel war ein deutlich sichtbares Loch, eine Art Krater. Drumherum Bäume. Wir kraxelten über Schutt nach unten.
Jan entdeckte Fußabdrücke im Schlamm. »Wem gehören die?«, fragte er verwundert.
Unmittelbar hinter dem Eingang zur Höhle war ein Loch im Boden: »Das ist frisch«, sagte er. »Das waren Höhlenplünderer, sogenannte Pot-Digger.«
Eine Coladose stand auf einem Felsen über den Gruben. Sie war noch warm. Jan hob sie hoch und roch daran, »Kerosin«, sagte er. Sie hatten seinen Truck gehört. Sie waren gerade erst abgehauen.
Es gibt ein bemerkenswertes FBI -Abhörprotokoll aus den neunziger Jahren. Guy Blackwell, der ehemalige Assistant U. S. Attorney von East Tennessee hatte mir eine Kopie gegeben. Für Blackwell war die Sache der seltsamste Fall, an dem er jemals gearbeitet hatte. Eines Morgens hatten ein paar Männer aus dem Dorf Rauch aus einem Loch in der Hügelflanke kommen sehen (neue Höhlen werden häufig durch Zufall entdeckt). Sie krochen hinein und fanden etwas, das Quentin Bass, der Archäologe der örtlichen Forstverwaltung, als »so nah dran
an einer Indianer-Schatzhöhle, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann« beschrieb (er sagte das, obwohl er nur die zerstörten Überreste gesehen hatte). Leute, die sich beruflich mit der Prähistorie des Südostens beschäftigen, kennen Lake Hole Cave – eine perfekt erhaltene Grabhöhle der späten Woodland-Epoche. Es gab dort weit über hundert Skelette von Angehörigen unterschiedlicher Generationen. Die Eingänge zu den Grabstätten waren
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