Puls
überraschte - war das nicht etwas, was in Träumen ständig passierte? Gerade noch stand man auf Tuchfühlung zu seiner Lehrerin aus der ersten Klasse; eine Minute später alberte man mit allen drei Mitgliedern von Destiny's Child auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings herum.
Destiny's Child kam in diesem Traum nicht vor, aber Clay sah den nackten jungen Mann, der mit abgebrochenen Autoantennen herumgefuchtelt hatte (jetzt in Kakihose und einem sauberen weißen T-Shirt), den alten Kerl mit dem Packsack, der Alice »kleines Fräulein« genannt hatte, und die hinkende Großmutter. Sie zeigte auf Clay und seine Freunde, die mehr oder weniger an der Fifty-Yard-Linie standen, dann sprach sie mit ihrer Nachbarin ... die, wie Clay, ohne überrascht zu sein, feststellte, Mr. Scottonis schwangere Schwiegertochter war. Das ist die Gaiten-Bande, sagte die hinkende Großmutter, und Mr. Scottonis schwangere Schwiegertochter verzog ihre volle Oberlippe zu einem höhnischen Lächeln.
Hilf mir!, rief die Frau auf dem Podest neben Tom. Es war Mr. Scottonis Schwiegertochter, der ihr Hilferuf galt. Ich will genau wie du mein Baby haben! Hilf mir!
Das hättest du bedenken sollen, solange noch Zeit war, antwortete Mr. Scottonis Schwiegertochter, und Clay merkte, dass wie in seinem vorigen Traum niemand wirklich sprach. Es funktionierte mit Telepathie.
Der Lumpenmann begann die Reihe entlangzugehen und hielt seine Hand über jeden, zu dem er kam. Das tat er so, wie Tom die Hand über dem Grab des Rektors ausgestreckt hatte: Handfläche waagerecht, Finger abgebogen. Am Handgelenk des Lumpenmanns sah Clay eine Art Namensarmband blitzen, vielleicht eines dieser medizinischen Alarmdinger, und merkte, dass es hier Strom gab - die Lichtmasten des Stadions gaben gleißend helles Licht.
Und ihm fiel noch etwas anderes auf. Dass der Lumpenmann seine Hand über ihre Köpfe halten konnte, obwohl sie auf Podesten standen, lag daran, dass er nicht auf dem Erdboden war. Er schritt in gut einem Meter Höhe einfach durch die Luft.
»Ecce homo - insanus«, sagte er. »Ecce femina - insana.« Und jedes Mal brüllte die Menge im Chor: »NICHT BERÜHREN!« - die Handy-Leute ebenso wie die Normies. Weil jetzt kein Unterschied mehr zwischen ihnen bestand. In Clays Traum war einer wie der andere.
9
Er wachte am Spätnachmittag zu einer Kugel zusammengerollt und ein flaches Motelkissen umklammernd auf. Als er ins Freie trat, sah er Alice und Jordan auf dem Randstein zwischen dem Parkplatz und den Zimmern sitzen. Alice hatte den rechten Arm um Jordan gelegt. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, und mit dem linken Arm umschlang er sie an der Taille. Das Haar am Hinterkopf schien sich zu sträuben. Clay gesellte sich zu ihnen. Vor ihnen war die zur Route 9 und nach Maine führende Straße leer bis auf einen Kastenwagen von Federal Express, der mit offener Hecktür genau auf der Mittellinie stand, und ein verunglücktes Motorrad.
Clay setzte sich zu den beiden. »Habt ihr ...«
»Ecce puer, insanus«, sagte Jordan, ohne den Kopf von Alice' Schulter zu heben. »Das bin ich.«
»Und ich bin die femina«, sagte Alice. »Clay, gibt's in Kashwak irgendein Footballstadion dieser Art? Falls es eines gibt, denke ich nicht daran, auch nur in die Nähe davon zu gehen.«
Hinter ihnen fiel eine Tür ins Schloss. Schritte kamen näher. »Ich auch nicht«, sagte Tom, indem er sich zu ihnen setzte. »Ich habe viele Anliegen - das würde ich bereitwillig eingestehen -, aber ein Todeswunsch hat nie dazugehört.«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube nicht, dass es dort oben mehr als eine Grundschule gibt«, antwortete Clay. »Die Highschool-Kids werden wahrscheinlich mit dem Bus nach Tash-more gefahren.«
»Das ist ein virtuelles Stadion«, sagte Jordan.
»Hä?«, sagte Tom. »Du meinst wie in so einem Computerspiel?«
»Ich meine wie in einem Computer.« Jordan hob den Kopf, starrte aber weiter die verlassene Straße nach Sanford, die Ber-wicks und Kent Pond entlang. »Aber das ist egal, das kümmert mich nicht weiter. Nur, wenn sie uns nicht berühren - die Handy-Leute nicht, die normalen Leute nicht -, wer wird uns dann anfassen?« Clay hatte noch nie solche Erwachsenenschmerzen in den Augen eines Kindes gesehen. »Wer wird uns berühren?«
Keiner der drei antwortete.
»Wird der Lumpenmann uns berühren?«, sagte Jordan, dessen Stimme nun etwas schriller klang. »Wird der Lumpenmann uns berühren? Kann sein. Immerhin beobachtet er uns,
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