Puls
Gebiet«, sagte Harold. »Oder, Gunnah? Oben in Maine, gottverdammt richtig. Alle, wo den Impuls nich abgekriegt habn, gehn dahin, und wir werdn in Ruhe gelassn. Jagen, angeln, aus dem beschissenen Land lebn. Das sagt Harvard.«
»Und ihr glaubt ihm?«, sagte Alice. Sie klang fasziniert.
Gunner hob einen Finger, der leicht zitterte. »Halt's Maul, Schlampe.«
»Ich finde, ihr solltet lieber eures halten«, sagte Jordan. »Wir haben Waffen.«
»Denkt lieber nicht mal dran, uns zu erschießn!«, sagte Harold mit schriller Stimme. »Was glaubst du, tut Harvard mit euch, wenn ihr uns erschießt, du dämlicher kleiner Lackaffe?«
»Nichts«, sagte Clay.
»Lasst euch ...«, begann Gunner, aber bevor er weitersprechen konnte, trat Clay vor und schlug mit Beth Nickersons Colt zu. Das Korn am Ende des Revolverlaufs riss an Gunners Kinn eine neue Wunde auf, aber Clay hoffte, dass sich die letztlich als bessere Medizin erweisen würde als die Verarztung, die der Mann abgelehnt hatte. Worin er sich allerdings täuschen sollte.
Gunner sackte gegen die Seite des verlassenen Milchtankwagens und starrte Clay sichtlich schockiert an. Harold trat impulsiv einen Schritt vor. Tom zielte mit Sir Speedy auf ihn und schüttelte einmal streng den Kopf. Harold wich zurück und fing an, auf den Nägeln seiner schmutzigen Finger herumzukauen. Die Augen darüber waren riesengroß und feucht.
»Wir gehen jetzt«, sagte Clay. »Ich rate euch, mindestens eine Stunde hier zu bleiben, weil ihr uns nämlich auf keinen Fall wiedersehen wollt. Wir lassen euch euer Leben als Geschenk. Wenn wir euch aber noch mal sehen, nehmen wir es euch.« Er trat rückwärts gehend auf Tom zu und starrte dabei weiter in das finster dreinblickende, ungläubige blutige Gesicht. Während er alles durch bloße Willenskraft zu tun versuchte, kam er sich ein bisschen wie der Löwenbändiger Frank Buck aus der guten alten Zeit vor. »Und noch etwas. Ich weiß nicht, wozu die Handy-Leute wollen, dass alle ›Normies‹ nach Kashwak ziehen, aber ich weiß, was ein Zusammentreiben meistens für Rinder bedeutet. Vielleicht solltet ihr mal darüber nachdenken, wenn ihr eure nächste nächtliche Rundfunksendung empfängt.«
»Leck mich«, sagte Gunner, aber dann wich er Clays Blick aus und glotzte stattdessen die eigenen Füße an.
»Komm jetzt, Clay«, sagte Tom. »Wir müssen weiter.«
»Lass dich nicht noch mal blicken, Gunner«, sagte Clay. Sie würden ihn jedoch wiedersehen.
12
Gunner und Harold mussten sie irgendwie überholt haben, möglicherweise indem sie das Wagnis eingegangen waren, tagsüber fünf oder gar zehn Meilen zurückzulegen, während Clay, Tom, Alice und Jordan im State Line Motel schliefen, das etwa zweihundert Meter hinter der Grenze in Maine stand. Möglicherweise hatten die beiden auf dem Rastplatz Salmon Falls übernachtet, wo Gun-ner seinen neuen Wagen zwischen dem guten halben Dutzend Fahrzeuge, die dort verlassen herumstanden, abgestellt hatte. Was eigentlich keine Rolle spielte. Wichtig war nur, dass sie die vier überholt hatten, auf ihr Vorbeikommen warteten und dann zuschlugen.
Das näher kommende Motorengeräusch oder Jordans Kommentar - »da kommt ein Sprinter« - registrierte Clay kaum. Hier war er in seinem angestammten Revier, und als sie an einem vertrauten Wahrzeichen nach dem anderen vorbeikamen - dem Hummerteich in Freneau, zwei Meilen östlich des State Line Motels, der Eisdiele Shaky's Tastee Freeze gegenüber, der Statue von General Joshua Chamberlain auf dem winzigen Stadtplatz in Turnbull -, fühlte er sich immer mehr wie jemand, der einen lebhaften Traum hatte. Wie wenig er erwartet hatte, die Heimat jemals wiederzusehen, wurde ihm erst klar, als er die große Softeiswaffel aus Kunststoff über der Eisdiele aufragen sah: Mit ihrer in den Sternenhimmel aufragenden gedrehten Spitze wirkte sie einerseits prosaisch, zugleich aber auch so exotisch wie etwas aus dem Albtraum eines Wahnsinnigen.
»Für einen Sprinter liegt ziemlich viel auf der Straße herum«, meinte Alice.
Während die Scheinwerfer auf dem Hügel hinter ihnen heller wurden, traten sie an den Straßenrand. Auf dem weißen Mittelstrich lag ein umgestürzter Pick-up. Clay hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass das heranrasende Fahrzeug diesen rammen würde, aber die Scheinwerfer ruckten nach links, sobald der Wagen die Kuppe hinter sich ließ. Der Sprinter wich dem Pick-up mühelos aus und rollte einige Sekunden lang auf dem Straßenrand dahin, bis er
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