Puls
Schwer zu sagen, wie viel. Der Wind verwirbelt alles.«
»Okay, das überzeugt mich«, sagte McCourt. »Ich habe schon immer langsam gelernt, aber ich war nie unbelehrbar. Die Stadt wird niederbrennen, und darin ausharren werden nur die Verrückten.«
»Das wird wohl so sein«, sagte Clay. Und obwohl er ahnte, dass das Ganze nicht nur auf Boston zutraf, konnte er es im Augenblick nicht ertragen, an mehr als nur Boston zu denken. Vielleicht würde er seinen Horizont im Lauf der Zeit erweitern - aber erst, wenn er wusste, dass Johnny in Sicherheit war. Möglicherweise würde er das große Gesamtbild aber auch nie erfassen können. Schließlich lebte er davon, dass er kleine Bilder zeichnete. Trotz allem hatte der egoistische Kerl, der wie eine Napfschnecke an der Unterseite seines Bewusstseins lebte, noch Zeit, einen klaren Gedanken auszusenden. Er kam in Dunkelblau und glänzendem Altgold daher. Wieso hat das ausgerechnet heute passieren müssen? Kurz nachdem ich endlich einen handfesten Erfolg erzielt habe?
»Kann ich mit euch mitkommen, wenn ihr geht?«, fragte Alice.
»Klar«, sagte Clay. Er sah zu dem Hotelangestellten hinüber. »Sie natürlich auch, Mr. Ricardi.«
»Ich bleibe auf meinem Posten«, sagte Mr. Ricardi. Das klang hochmütig, aber bevor er Clays Blick ausweichen konnte, war noch die nackte Angst zu sehen, die in seinen Augen stand.
»Ich glaube nicht, dass die Geschäftsleitung es Ihnen verübelt, wenn Sie unter den gegebenen Umständen zusperren und sich davonmachen«, sagte McCourt. Er sprach in dem sanften Ton, den Clay immer mehr zu schätzen begann.
»Ich bleibe auf meinem Posten«, sagte er noch einmal. »Mr. Donnelly, der Leiter der Tagschicht, ist zur Bank gegangen, um die Morgeneinnahme einzuzahlen. Sobald er zurück ist, kann ich vielleicht .«
»Bitte, Mr. Ricardi«, sagte Alice. »Hier zu bleiben bringt doch nichts.«
Aber Mr. Ricardi, der wieder die Arme vor der schmalen Brust verschränkt hatte, schüttelte nur den Kopf.
15
Sie rückten einen der Queen-Anne-Stühle beiseite, und Mr. Ricardi schloss ihnen die Eingangstür auf. Clay sah hinaus. Er konnte nirgends Leute sehen, die draußen vorbeiliefen, aber das ließ sich nicht so ohne weiteres bestimmen, weil die Luft jetzt voller feiner Asche war. Sie wirbelte im Wind wie schwarzer Schnee.
»Los, kommt«, sagte er. Sie wollten zunächst nur nach nebenan ins Metropolitan Cafe.
»Ich schließe wieder ab und stelle den Stuhl vor die Tür zurück«, sagte Mr. Ricardi, »aber ich horche nach draußen. Falls Sie Schwierigkeiten bekommen - falls sich beispielsweise weitere dieser ... Leute ... im Metropolitan versteckt halten - und Sie den Rückzug antreten müssen, rufen Sie einfach nur: ›Mr. Ricardi, Mr. Ricardi, wir brauchen Sie!‹ Dann weiß ich, dass es ungefährlich ist, die Tür zu öffnen. Ist das gut so?«
»Ja«, sagte Clay. Er drückte Mr. Ricardis knochige Schulter. Der Hotelangestellte zuckte leicht zusammen, dann reckte er sich (obwohl er sich nicht anmerken ließ, ob ihn dieses Zeichen der Anerkennung freute). »Sie sind in Ordnung. Ich hab erst gedacht, Sie wären's nicht, aber das war ein Irrtum.«
»Ich hoffe, mein Bestes zu tun«, sagte der Kahlköpfige steif. »Denken Sie nur daran .«
»Wir denken daran«, sagte McCourt. »Und wir werden ungefähr zehn Minuten lang dort drüben bleiben. Sollte hier etwas schief gehen, rufen Sie einfach.«
»Wird gemacht.« Aber Clay glaubte nicht, dass Ricardi das tun würde. Er wusste nicht, warum er das dachte, es war unvernünftig, anzunehmen, ein Mensch würde nicht nach Rettung rufen, wenn er in Schwierigkeiten steckte, aber er dachte es trotzdem.
»Bitte überlegen Sie sich die Sache anders, Mr. Ricardi«, sagte Alice. »In Boston ist niemand mehr sicher, das sollten Sie inzwischen wissen.«
Mr. Ricardi sah nur weg. Und Clay dachte nicht ohne Staunen: So sieht also ein Mann aus, der beschlossen hat, dass es besser ist, den Tod zu riskieren als Veränderungen.
»Los, kommt«, sagte Clay. »Wir machen uns jetzt ein paar Sandwichs, solange es noch Strom gibt und wir Licht haben.«
16
Der Strom fiel aus, als sie in der sauberen, weiß gekachelten kleinen Küche des Metropolitan Cafes gerade ihre letzten Sandwichs einpackten. Unterdessen hatte Clay noch dreimal versucht, in Maine anzurufen: einmal in seinem ehemaligen Haus, einmal in der Kent Pond Elementary School, in der Sharon unterrichtete, und einmal in der Joshua Chamberlain Middle School, auf die Johnny
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