Puls
war, dass ich ihm noch mal begegnet bin. Ich hätte gleich bei euch bleiben sollen. Manchmal bin ich eben ziemlich blöd.«
»Du warst verängs...«, begann Clay, und dann ereignete sich irgendwo östlich von ihnen die bisher stärkste Explosion, ein ohrenbetäubendes KA-BUM!, auf das sie sich alle duckten und die Ohren zuhielten. Sie hörten das Fenster in der Eingangshalle zersplittern.
»Mein ... Gott«, sagte Mr. Ricardi. Mit seinen weit aufgerissenen Augen unter dem kahlen Schädel erinnerte er Clay an Daddy War-bucks, den väterlichen Freund der Comicfigur Little Orphan Annie. »Das könnte die neue Shell-Großtankstelle drüben in der Kneeland Street gewesen sein. Bei der alle Taxis und Duck Boats tanken. Die Richtung hat jedenfalls gestimmt.«
Clay hatte keine Ahnung, ob Ricardi richtig lag, da er kein brennendes Benzin riechen konnte (zumindest noch nicht), aber sein visuell geübtes inneres Auge konnte ein Dreieck aus großstädtischem Beton sehen, das in der herabsinkenden Abenddämmerung wie eine Propanfackel brannte.
»Kann eine heutige Stadt überhaupt brennen?«, fragte er Mc-Court. »Eine, die hauptsächlich aus Beton und Metall und Glas besteht? Kann sie brennen wie damals Chicago, nachdem Mr. O'Lea-rys Kuh die Laterne umgeworfen hat?«
»Diese Sache mit der Laternenumwerferei war nichts als eine moderne Legende«, sagte Alice. Sie rieb sich das Genick, als wäre sie im Begriff, schlimme Kopfschmerzen zu bekommen. »Das hat Mrs. Myers in Geschichte gesagt.«
»Klar kann sie das«, sagte McCourt. »Das sieht man doch daran, was mit dem World Trade Center passiert ist, nachdem die Flugzeuge eingeschlagen sind.«
»Flugzeuge voller Kerosin«, sagte Mr. Ricardi spitz.
Als ob der glatzköpfige Hotelangestellte ihn heraufbeschworen hätte, erreichte der Geruch von brennendem Benzin sie jetzt, waberte durch die zersplitterten Scheiben im Erdgeschoss herein und kroch wie ein schlechter Zauber unter der Tür zum Büro hinter der Rezeption hindurch.
»Ich glaube, Sie haben mit der Shell-Tankstelle den Nagel auf den Kopf getroffen«, bemerkte McCourt.
Mr. Ricardi ging zu der Tür zwischen Büro und Eingangshalle. Er sperrte auf und öffnete sie. Was Clay von der Eingangshalle dahinter sehen konnte, wirkte verlassen und düster und irgendwie belanglos. Mr. Ricardi schnüffelte hörbar, dann schloss er die Tür und sperrte wieder ab. »Schon schwächer«, sagte er.
»Wunschdenken«, sagte Clay. »Oder Ihre Nase hat sich bereits an den Geruch gewöhnt.«
»Ich glaube, er hat möglicherweise Recht«, sagte McCourt. »Dort draußen weht ein kräftiger Westwind - damit meine ich, dass die Luft sich in Richtung Meer bewegt -, und wenn das, was wir gerade gehört haben, diese neue Tankstelle war, die sie an der Ecke Kneeland und Washington beim New England Medical Center hingestellt haben ...«
»Genau die meine ich«, sagte Mr. Ricardi. Aus seiner Miene sprach trübselige Befriedigung. »Hach, all die Proteste! Aber damit haben die cleveren Geldgeber ja bald aufgeräumt, das .«
McCourt fiel ihm ins Wort. »… dann steht das Krankenhaus inzwischen in Flammen … natürlich mit allen, die noch darin sind …«
»Nein«, sagte Alice, dann schlug sie eine Hand vor den Mund, als wollte sie verhindern, dass weitere Wörter herauskamen.
»Ich glaube schon. Und das Wang Center kommt als Nächstes dran. Vielleicht nimmt der Wind nachts ab, aber wenn er's nicht tut, dürfte bis zehn Uhr alles östlich der Kneeland und der Mass Pike in Flammen stehen.«
»Wir sind westlich der Kneeland Street«, stellte Mr. Ricardi fest.
»Dann sind wir hier sicher«, sagte Clay. »Zumindest vor diesem Großbrand.« Er trat an Mr. Ricardis kleines Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte auf die Essex Street hinaus.
»Was sehen Sie?«, fragte Alice. »Sehen Sie Leute?«
»Nein ... Ja. Einen Mann. Auf der anderen Straßenseite.«
»Ist er einer von den Verrückten?«, fragte sie.
»Kann ich nicht erkennen.« Aber Clay hielt ihn für einen. Was an der Art lag, wie der Mann rannte, wie er sich mit ruckartigen Kopfbewegungen umsah. Kurz bevor der Kerl um die Ecke zur Lincoln Street verschwand, wäre er fast mit der auf dem Gehsteig aufgebauten Auslage eines Obsthändlers kollidiert. Und obwohl Clay ihn nicht hören konnte, konnte er sehen, wie er die Lippen bewegte. »Jetzt ist er fort.«
»Sonst niemand?«, fragte McCourt.
»Im Augenblick nicht, aber ich sehe Rauch.« Er hielt inne. »Auch Ruß und Asche.
Weitere Kostenlose Bücher