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Puls

Puls

Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Nase und Kinn abgewaschen, aber sie hatte vor Erschöpfung dunkle Ringe unter den Augen; die gleißend helle Sturmlaterne ließ das restliche Gesicht leichenblass erscheinen, und das Lächeln, das zwischen bebenden Lippen, von denen längst jede Spur von Lippenstift verschwunden war, für ganz kurze Zeit ein paar Zähne aufblitzen ließ, war in seiner erwachsenen Künstlichkeit beunruhigend. Er fand, dass Alice wie eine Filmschauspielerin aus den späten Vierzigerjahren aussah, die eine Prominente am Rande eines Nervenzusammenbruchs spielte. Sie hatte den winzigen Turnschuh vor sich auf dem Tisch liegen und ließ ihn um einen Finger kreiseln. Bei jeder Umdrehung flogen und klackten die Schuhbänder. Irgendwie hoffte Clay, dass Alice bald zusammenbrach. Je länger sie durchhielt, desto schlimmer würde es sein, wenn sie endlich losließ. Sie hatte schon einiges herausgelassen, aber bei weitem noch nicht genug. Bisher war er derjenige gewesen, der am meisten von sich offenbart hatte.
    »Ich finde nur, die Leute sollten nicht sehen, dass wir hier sind, das ist alles«, sagte Alice. Sie ließ den von ihr als Baby-Nike bezeichneten Turnschuh weiter kreiseln. Er drehte sich. Die Schuhbänder flogen und klackten auf McCourts Tisch, der auf Hochglanz poliert war. »Irgendwie könnte das ... schlecht sein.«
    McCourt sah zu Clay hinüber.
    »Vielleicht hat sie da Recht«, sagte Clay. »Mir gefällt's auch nicht, dass wir das einzige beleuchtete Haus in der ganzen Straße sind, auch wenn die Fenster hier nach hinten rausführen.«
    McCourt stand auf und zog wortlos den Vorhang über der Spüle zu. In der Küche gab es noch zwei weitere Fenster, deren Vorhänge er ebenfalls schloss. Er wollte gerade wieder an den Tisch zurückkommen, änderte dann aber seinen Kurs und machte die Tür zum Flur zu. Alice ließ den Baby-Nike auf der Tischplatte vor sich kreiseln. Im blendend hellen, unbarmherzigen Licht der Sturmlaterne konnte Clay sehen, dass er pink und lila war - eine Farbkombination, die nur ein Kind lieben konnte. Er drehte und drehte sich. Die Schuhbänder flogen und klackten. McCourt sah den kleinen Schuh an und runzelte die Stirn, als er sich setzte, und Clay dachte: Sag ihr, sie soll ihn vom Tisch nehmen. Sag ihr, dass sie nicht weiß, wo er herkommt, und dass du ihn nicht auf deinem Tisch haben willst. Das müsste reichen, um sie ausflippen zu lassen, und dann könnten wir uns das Teil langsam vom Hals schaffen. Sag's ihr.
    Ich glaube, sie will selbst, dass du's tust. Ich glaube, sie macht's nur deshalb.
    Aber McCourt zog nur Sandwichs aus dem Beutel - Roastbeef und Käse, Schinken und Käse - und verteilte sie. Er holte einen Krug Eistee aus dem Kühlschrank (»Noch immer schön kalt«, sagte er) und stellte dem Kater dann den Rest einer Packung Fertighamburger hin.
    »Er hat es sich verdient«, sagte er fast entschuldigend. »Außerdem würde das Fleisch wegen des Stromausfalls nur vergammeln.«
    An der Wand hing ein Telefon. Clay probierte es aus, aber das war eigentlich nur eine Formalität, und diesmal hörte er auch noch nicht einmal den Wählton. Das Ding war tot wie . na ja, wie Power Suit Woman, die vor dem Bostoner Stadtpark lag. Er setzte sich wieder und fing an, sein Sandwich zu essen. Er hatte Hunger, aber keine Lust auf Essen.
    Alice legte ihr Sandwich nach nur drei Bissen beiseite. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Nicht jetzt. Wahrscheinlich bin ich zu müde. Ich würde gern schlafen. Und ich will aus diesem Kleid heraus. Waschen kann ich mich vermutlich nicht - jedenfalls nicht sehr gut -, aber ich würde alles dafür geben, wenn ich dieses beschissene Kleid wegwerfen könnte. Es stinkt nach Schweiß und Blut.« Sie ließ den Turnschuh kreiseln. Er drehte sich neben dem zerknitterten Papier, auf dem das Sandwich lag, das sie kaum angerührt hatte. »Ich kann auch meine Mutter daran riechen. Ihr Parfüm.«
    Einige Augenblicke lang herrschte allgemeines Schweigen. Clay war völlig perplex. Vor seinem inneren Auge stand kurz eine Alice ohne ihr Kleid da, in einem weißen BH und dazu passendem Slip, deren starrende, tief in den Höhlen liegenden Augen sie wie eine Ausschneidepuppe aussehen ließen. Seine Künstlerfantasie, stets beweglich und stets gefällig, ergänzte dieses Bild durch umknickbare Papierzungen an Schultern und Waden. Der Gesamteindruck war schockierend, aber nicht weil er sexy war, sondern weil er's eben nicht war. In der Ferne - eben noch hörbar - explodierte etwas mit einem gedämpften

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