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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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höchstens zehn Minuten später, und der Mond trat aus dem Gewirr aus Wolken und Rauch, das ihn seit etwa einer Stunde verdeckt hatte, hervor, als hätte der kleine Mann mit der Brille und dem Schnurrbart dem Himmlischen Beleuchter ein Stichwort geliefert. Die Strahlen - jetzt silbern, nicht mehr in dem grausigen entzündeten Orange - beleuchteten ein Haus, das entweder dunkelblau, grün oder vielleicht sogar grau war; ohne zusätzliche Straßenlampen war das nicht recht auszumachen. Clay erkannte jedoch, dass das Haus gepflegt und adrett war, allerdings vielleicht nicht ganz so groß, wie man auf den ersten Blick vermutet hätte. Der Mondschein förderte diese Sinnestäuschung zusätzlich, aber sie entstand vor allem durch die Art, wie die Stufen von McCourts gepflegtem Rasen zu der einzigen von Säulen getragenen Veranda in der ganzen Straße hinaufführten. Links davon zog sich ein Natursteinkamin die Hauswand hinauf. Über der Veranda befand sich ein Dachfenster mit Blick auf die Straße.
    »Oh, Tom, es ist wunderhübsch!«, sagte Alice viel zu hingerissen. In Clays Ohren klang das völlig fertig und an der Grenze zur Hysterie. Er selbst hielt es gar nicht für hübsch, aber jedenfalls sah es wie das Heim eines Mannes aus, der ein Handy und alle sonstigen technischen Spielsachen des 21. Jahrhunderts besaß. Was auch für die übrigen Häuser in diesem Teil der Salem Street zutraf, wenngleich Clay bezweifelte, dass es viele Anwohner waren, die ein ebenso fantastisches Glück wie Tom gehabt hatten. Er sah sich nervös um. Alle Häuser waren dunkel - der Strom war ausgefallen - und hätten verlassen sein können, aber er schien Blicke zu spüren, mit denen man sie heimlich musterte.
    Die Blicke von Irren? Von Handy-Verrückten? Er dachte an Power Suit Woman und Pixie Light, an den Wahnsinnigen in der grauen Hose und mit der zerfetzten Krawatte, an den Mann im Geschäftsanzug, der dem Hund im Park glatt ein Ohr abgebissen hatte. Er dachte an den Nackten, der mit abgebrochenen Autoantennen um sich gestochen hatte, während er dahinrannte. Nein, mustern gehörte nicht zum Repertoire der Handy-Verrückten. Sie fielen einfach nur über einen her. Aber wenn sich in diesen Häusern ganz normale Menschen verschanzt hatten - zumindest in einigen von ihnen -, wo waren dann die Handy-Verrückten?
    Clay hatte keine Ahnung.
    »Ich weiß nicht, ob ich's gleich wunderhübsch nennen würde«, sagte McCourt. »Aber es steht noch, und das genügt mir. Ich war eigentlich der Überzeugung, wir würden hier ankommen und nur einen rauchenden Krater vorfinden.« Er zog einen kleinen Schlüsselbund aus der Tasche. »Also, kommt rein. Ist's auch noch so bescheiden und so weiter.«
    Sie folgten dem Weg zur Haustür und waren erst ein halbes Dutzend Schritte weit gekommen, da rief Alice: »Wartet!«
    Clay warf sich herum und spürte Angst und Erschöpfung zugleich. Er glaubte, allmählich besser zu verstehen, was abgekämpft bedeutete. Selbst sein Adrenalin schien müde zu sein. Aber dort war niemand - keine Handy-Verrückten, kein Kahlkopf, dem Blut aus seinem zerfetzten Ohr übers Gesicht lief, nicht einmal eine kleine alte Dame, die den Apokalypse-Blues verkündete. Nur Alice, die sich an der Stelle, wo McCourts Gartenweg vom Gehsteig abzweigte, auf ein Knie niedergelassen hatte.
    »Was gibt's denn, Mädchen?«, fragte McCourt.
    Sie stand auf, und Clay sah, dass sie einen winzigen kleinen Turnschuh in der Hand hielt. »Das ist ein Baby-Nike«, sagte sie. »Haben Sie ...«
    McCourt schüttelte den Kopf. »Ich lebe allein. Das heißt, da ist noch Rafe. Er hält sich für den King, ist aber bloß die Katze.«
    »Woher kommt er dann?« Sie sah mit müde fragendem Blick von Tom zu Clay hinüber.
    Clay schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, Alice. Am besten wirfst du ihn weg.«
    Aber er wusste bereits, dass sie das nicht tun würde; es handelte sich eindeutig um ein Deja-vu-Erlebnis der schlimmsten Sorte. Sie behielt ihn in ihrer leicht zum Gelenk hin abgewinkelten Hand, während sie weiterging, um dann hinter McCourt stehen zu bleiben, der auf den Stufen vor der Haustür bei dem schlechten Licht langsam seine Schlüssel sortierte.
    Gleich hören wir die Katze, dachte Clay. Rafe. Und tatsächlich ließ der Kater, der Tom McCourt gerettet hatte, von drinnen ein lautes Begrüßungsmiauen hören.

7
    Tom McCourt beugte sich hinunter, und Rafe - die Kurzform von Rafael, wie er ihnen später erklärte - sprang ihm in die Arme, schnurrte laut und

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