Pulverfass Iran
eine kranke Gesellschaft“, sagt uns eine junge Iranerin auf einer Wochenendparty im Norden Teherans. Das lässt sich an einigen Statistiken ablesen, in denen der Iran weltweit Spitzenreiter ist: In keinem Land der Welt gibt es so viele Drogensüchtige wie im Iran. Von 78 Millionen Iranern seien 1,2 Millionen abhängig, behauptet die Regierung. Auf drei Millionen schätzt die UNO die Zahl der Drogensüchtigen. Auch hier liegt die Dunkelziffer höher – knapp zehn Millionen Iraner, das sind über zwölf Prozent der Bevölkerung, sollen rauschgiftabhängig sein. Der Verbrauch der „Volksdroge“ Opium ist in Teheran unbestätigten Zahlen zufolge auf täglich fünf Tonnen gestiegen. Der Stoff kommt meist aus dem Nachbarland Afghanistan, wo 90 Prozent des weltweit produzierten Opiums hergestellt werden. Besonders in der Großstadt Teheran hat das Drogenproblem ungeahnte Ausmaße angenommen. Der Gottesstaat, so könnte man fast sagen, ist „zugedröhnt“. Die Gründe sind vielfältig: Über 70 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Die meisten sind in der Mullah-Diktatur aufgewachsen, kennen nur Verbote, sexuellen Frust – über 30 Prozent sind arbeitslos. Sie ertränken ihren Frust im Alkohol oder hängen an der Nadel. Die unzureichenden Ausbildungsmöglichkeiten, das Fehlen gesellschaftlicher und öffentlicher Unterhaltung und die fehlende Zukunftsperspektive haben viele Jugendliche zur Passivität und in den Drogenkonsum getrieben. Hinzu kommt, dass in einer Gesellschaft, in der vieles |55| verboten ist, gegen jedes Verbot angekämpft und alles Unerlaubte möglichst häufig und exzessiv getan wird. Omid Nouripour, der sicherheitspolitische Sprecher der Grünen und Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestages, sagt mir im Interview, dass im Iran ein Schuss Drogen billiger sei als ein Liter Milch. So dröhnt sich nicht nur die junge Elite Irans zu, auch die Ärmsten der Armen greifen zur Nadel. Sie kochen sich ihre Cocktails aus dem Urin von anderen Süchtigen und den Resten anderer Drogenabhängiger zusammen. Die Desillusionierung nach der Revolution, die alltägliche Selbstverständlichkeit der Verstellung und die Islamisierung aller Lebensbereiche haben den gesellschaftlichen Verfall in der Islamischen Republik nicht gestoppt, wie es sich zumindest die Revolutionswächter auf die Fahnen geschrieben haben, sondern im Gegenteil eher beschleunigt. Die Folgen von dreißig Jahren Revolution, Korruption, aber auch die katastrophale Wirtschaftslage haben ihre Spuren hinterlassen.
Zukunftsängste, Hoffnungslosigkeit und Frustration über die gesellschaftliche Unfreiheit und die allgemeine Situation treiben viele Jugendliche in die Depression, in die Drogensucht oder in die Prostitution.
Eine andere traurige Statistik betrifft die Selbstmordrate unter Frauen, die die zweithöchste der Welt ist – und das ist auch nur die offizielle Zahl. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der gesellschaftliche Druck im Iran ist in diesen Tagen gewaltig. Die überwiegend jugendliche Bevölkerung sucht Arbeit und will eine Familie gründen – und das in einem Land, in dem die Arbeitslosenquote offiziell bei 13 Prozent liegt, inoffiziell aber über 30 Prozent beträgt. Die katastrophale Wirtschaftslage gibt nur wenigen Menschen die Chance, Geld zu verdienen, zu heiraten und ihren Familienwunsch zu erfüllen. Auch der Erwartungsdruck der eigenen Familie, die erwarten, dass sich ihr Kind eine solide Existenz aufbaut, ist hoch. Hinzu kommt der persönliche und gesellschaftliche Druck, Dinge sagen und tun zu müssen, sich in bestimmter Art und Weise kleiden und verhalten |56| zu müssen, ohne daran zu glauben. Die steigende Scheidungsrate, die wachsende Zahl von Haushalten, die alleine von Frauen geführt werden, sowie die wachsende Zahl von Frauen und Kindern, die aufgrund von Armut auf der Straße leben, tun ihr übriges. Viele Mädchen und Frauen sehen sich gezwungen, mit Hilfe der Prostitution ihr Überleben zu sichern oder ihr kärgliches Einkommen aufzubessern. Schätzungen zufolge verkaufen knapp eine halbe Million Frauen ihren Körper allein in Teheran. Obwohl das Regime die Prostitution scharf ächtet, haben die Behörden nach gut informierten Quellen allein in der Hauptstadt 55.000 Prostituierte registriert. In vielen Fällen spielt auch das Thema „Gewalt in der Ehe“ eine große Rolle. Zahlreiche Ehen, besonders auf dem Land, sind weniger aus religiösen denn aus traditionellen Gründen innerhalb des
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