Pulverturm
hysterisches »Welches Testament?«, während ihre Mutter ihre beiden Hände, die bisher in ihrem Schoß geruht hatten, an die Tischplatte legte. Ganz so, als wolle sie den Tisch in Richtung Schielin schieben. Der machte unbeeindruckt weiter.
»Na ja. Ottmar Kinker hat beim Amtsgericht Lindau, also genauer gesagt beim Nachlassgericht, ein Testament hinterlegt. Wussten Sie gar nichts davon? Soweit ich informiert bin, hat er das von einem Notar aufsetzen lassen. Ist doch eine sinnvolle Sache, wenn man seinen Nachlass in Ordnung geregelt haben möchte.«
»Der Nachlass ist geregelt«, keifte Helmtraud Kinker, noch völlig fassungslos und erntete einen strafenden Blick ihrer Mutter, die ihre Hände wieder unter Kontrolle hatte.
»Woher wissen Sie von diesem Testament?«
»Wir haben es mit einem Mordfall zu tun«, sagte Schielin verschleiernd und unterschlug die besonderen Umstände. Er holte die Briefe hervor, die er gefunden hatte, und reichte sie Meta Kinker. Den ungeöffneten behielt er zurück.
»Die haben wir unter den persönlichen Sachen Ihres Sohnes gefunden.«
Er bemerkte das feine Zittern der Hand, als sie die Briefe entgegennahm. Er ließ ihr keine Zeit zu überlegen.
»Den ungeöffneten Brief hier wollte ich nicht ohne Ihr Einverständnis und Ihr Beisein öffnen.«
Meta Kinker nickte verdutzt. Er schnitt mit dem bereitgehaltenen Schweizer Offiziersmesser das Kuvert auf, entnahm den Brief, faltete ihn auf und las den einen Satz, der darauf stand. Ohne dass eine der beiden Frauen etwas zu dem Vorgang hätten sagen können, schob er das Blatt über den Tisch. Er überlegte. Was konnte dieser kryptische Satz nun wieder bedeuten?
Die Zeit ist die Entdeckerin der Wahrheit.
Es war zweifelsfrei die gleiche Schrift, wie auf den beiden anderen Briefen. Meta Kinker nahm das Blatt zu Hand, las den Satz und legte das Papier auf die von ihrer Tochter abgewandten Seite und sprach mit ihrer rauen, tiefen Stimme: »Meine Schwägerin war schwer krank und beeinträchtigt in ihren letzten Lebensjahren. Körperlich wie geistig. Sie hatte Krebs, und war auch in der Nervenanstalt. Mein Mann war ihr Lieblingsbruder und sie hat seinen Tod nicht verwunden. Die ganze Verwandtschaft hat sie mit ihren Vorwürfen terrorisiert. Sie haben hier nur drei Briefe. Ich habe ein Dutzend davon, und irgendwann habe ich sie nicht mehr geöffnet.«
Schade, dachte Schielin. Das, was sie gesagt hatte, war plausibel. Es konnte der Wahrheit entsprechen, oder aber einfach nur abgebrüht sein. Zumindest waren es die Briefe, die die Alte in Aufregung versetzt hatten. Angst aber, Angst hatte sie nicht gezeigt. Auch nicht, als er das Testament zur Sprache brachte.
*
Nach dem Besuch fuhr er in Richtung See, um sich den Muff der Begegnung aus den Kleidern und dem Sinn wehen zu lassen. Er fuhr die Bregenzer Straße bis kurz vor den ehemaligen Grenzübergang Ziegelhaus, bog vor dem Kreisverkehr nach rechts ab und parkte sein Auto schließlich auf der Schotterfläche vor den Schrebergärten. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, die Sonne war voller Kraft und ein zartes Lüftchen ließ die bayerischen Flaggen, die über einigen der Gartenbuden hingen, müde und voller Frieden schwingen.
Schielin blieb einen Augenblick stehen und schloss die Augen, lauschte in die vermeintliche Stille. Von der Bregenzer Straße drangen Motorengeräusche bis hierher, konnten das aufgeregte Vogelgezwitscher jedoch nicht übertönen. Aus einigen Gärten waren Arbeitsgeräusche zu hören. Ganz vorne wurde gehämmert, davon ein Stück entfernt knirschte in gleichmäßigem Rhythmus das metallene Blatt einer Schaufel und nahm feinen Kies auf. Einzig das Hundegebell vom Tierheim, das drüben hinter den Bäumen und zarten Resten des Morgennebels versteckt lag, vermittelte einen Anflug von Unruhe.
Schielin ging den schmalen Fußweg am Gartenspalier vorbei bis zum Zecher Kieshafen. Die Teerwege dort waren gesäumt von Trailern, auf denen die Boote überwintert hatten und nun auf den See warteten. Wie kahle Bäume ragten die Masten in den blauen Frühjahrshimmel. Niemand war zu sehen.
Er überquerte die Wiese und setzte sich am Ufer auf einen großen Stein. Rechts lag der Campingplatz, noch völlig vereinsamt, und vor ihm die Insel in einer ihrer schönsten Ansichten.
Schielin verfolgte die Uferlinie, bis hin zur Seebrücke und den Dächern der Insel. Er sann darüber nach, was es war, das ihn jedes Mal frösteln ließ, wenn er nur an diese triste Wohnung und Meta Kinker
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