Puppenfluch
ab.
Siris Hände zitterten. Sie zog den Stacheldraht zurück und schaffte es irgendwie, ihn zu einer Schlaufe zu biegen. Dann unternahm sie einen neuen Versuch und dieses Mal verhakte sich der Draht. Mit angehaltenem Atem zog sie ihn vorsichtig zurück.
Tatsächlich, dort war etwas. Siri konnte die Umrisse erahnen, während die Plane langsam, ganz langsam herunterglitt. Mit zitternden Fingern zog sie weiter.
Dann lag das, was darunter verborgen gewesen war, aufgedeckt vor ihr. Siris Schlaufe rutschte ab und für einen kurzen Moment verlor sie das Gleichgewicht.Aber nur für einen Augenblick, schon kniete sie auf dem Boden und richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf das Bündel, das zum Vorschein gekommen war.
Es war ein Mensch.
Ein Arm, eine zierliche, weiße Hand.
Der Rücken nach hinten gebogen, eine verdrehte, schlanke Taille.
Ein paar große, dunkle Augen, die ins Nichts starrten.
Und lange, schwarze Haare, die in einer Lache aus Blut klebten.
14
In der Nähe bellte ein Hund. Siri hörte ihn wie durch einen Nebelschleier. Langsam hob sie den Kopf. Ihr Nacken schmerzte und sie hatte das Gefühl, seit Stunden in dem Lager eingeschlossen zu sein. Sie konnte sich nur vage daran erinnern, was passiert war und warum sie zusammengekauert in dieser Finsternis hockte und am ganzen Körper zitterte.
Sie hörte eine Tür schlagen und Hundepfoten näher kommen.
Eine Woge von Übelkeit überrollte Siri.
Warum hatte sie nicht schon eher etwas unternommen? Dann würde jetzt kein russisches Mädchen vor ihr liegen, den Blick ins Nirgendwo gerichtet.
Yulia – das Mädchen mit den schwarzen Haaren ... Siri erinnerte sich mit einem Mal und wimmerte unwillkürlich auf, während ihr Herz wie wild pochte.
Es wurde hell. Erschrocken blinzelte Siri in das grelle Licht und krümmte sich zuckend zusammen.
»Was machst du hier? Wer bist du? Antworte!«
Die Stimme klang jung. Siri zwang sich selbst, denKopf zu heben und die Augen zu öffnen. Der Wachmann schien kaum älter als zwanzig zu sein.
»Lasse!«, rief er unsicher nach hinten. »Komm mal her!«
Er klang überrascht. Sogar der Schäferhund, den er bei sich hatte, legte den Kopf schief und schaute Siri mit ruhigen Augen an. Offenbar wirkte sie nicht sonderlich bedrohlich, so wie sie da hockte, mit tränenverschmierten Wangen.
Hinter dem jungen Wachmann tauchte ein grauhaariger Mann auf und musterte Siris klägliche Erscheinung. Sie drehte den Kopf und schielte zu dem Lager nebenan. Er folgte ihrem Blick und stockte.
»Großer Gott«, stieß er hervor. »Jonte, ruf die Polizei!«
Aber Jonte musste niemanden mehr rufen. Die Sirenen waren schon zu hören.
Siri fror. Nicht so wie im Kanal, es war keine Kälte, die einem durch Mark und Bein ging. Diese Kälte schloss sie ein und machte es ihr unmöglich, sich zu bewegen. Sie wollte nur in Mamas Arm gekuschelt auf dem Sofa sitzen, die Augen schließen und nie mehr an das denken müssen, was sie erlebt hatte. Aber jedes Mal, wenn sie die Augen zumachte, sah sie das Mädchen wieder vor sich, genau wie in ihren Albträumen. Irina hatte zurück nach Kaliningrad fliegen dürfen, aber Yulia würde nie mehr nach Hause kommen. Nie.
Der Gedanke, dass das Leben dennoch einfach weitergehen würde wie zuvor, ließ Siri fast verzweifeln. Menschen würden essen und verreisen, in die Schule gehen und sich verlieben, nur Yulia würde nie wieder irgendetwas davon erleben ...
»Wie geht es dir?«, fragte Kommissarin Björk freundlich und stellte ihr eine Tasse mit dampfend heißem Tee hin. »Du bist schrecklich blass. Trink einen Schluck – nicht, dass du uns noch ohnmächtig wirst. Ich muss dich ja noch verhören.«
Siri war zu Hause gewesen, hatte geduscht, sich umgezogen und ihre Mutter hatte ihr einen Stützverband ums Knie gemacht. Jetzt saß sie mit Kommissarin Björk und Mama in einem kleinen Raum im Kommissariat. Es war kein Büro, sondern eher ein Konferenzraum mit einem runden Tisch, einem Sofa und einigen Stühlen. Im Fenster fristete ein Weihnachtsstern sein trauriges Dasein und die Bilder an der grau gestrichenen Wand waren ziemlich sicher von Ikea.
»Mir geht es gut. Wo ist Aron?«, fragte Siri.
Sie hatte nach ihm Ausschau gehalten, als sie die Lagerhalle verlassen hatte, ihn in dem Durcheinander allerdings nirgends finden können.
»Siri, was hast du denn jetzt schon wieder gemacht?«, hatte Kommissarin Björk sie dort in der Halle mit seltsamer Stimme begrüßt und in den Arm genommen.
Dann hatte sie
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