Puppengrab
einer Bibel stand … Vielleicht eine Widmung? Oder der Name des Besitzers dieser Ausgabe?
Sein Handy klingelte. »Sheridan«, sagte er und legte die Bibel zurück.
»Hey, hier ist Waite.« Der Agent aus Philadelphia mit den dünnen Brillengläsern. »Wo sind Sie?«
»Noch in Sampson, in Bankes’ altem Haus. Vermutlich inzwischen Hammonds Besitz.«
»Gut. Sheriff Grimes hat mich gerade auf eine Spur angesetzt. Ein Typ, der Chevy noch von ganz früher kennt. Wollen Sie dabei sein?«
»Wo müssen wir hinkommen?«
Das »Wo« war ein Pflegeheim zehn Meilen südlich von Sampson in Richtung Arlington.
»Der Mann heißt Ray Goodwin. Er war Sheriff zu der Zeit, als Bankes’ kleine Schwester verschwand«, erklärte Waite, während sie durch den breiten, kahlen Flur gingen. Im hintersten Zimmer zu ihrer Rechten saß Ray Goodwin in einem Rollstuhl, die knotigen Finger tippten auf die Armlehnen. Er war einmal ein stattlicher Mann gewesen, hatte jedoch seine Haltung durch das Sitzen im Rollstuhl verloren. Seine Wangen hingen herunter, und seine Haut war von bläulichen Adern durchzogen.
»Unterschätzen Sie ihn nicht«, flüsterte Waite und blinzelte dem alten Herrn zu. »Er wird Sie bei lebendigem Leib auffressen.«
Neil lächelte. Die Augen des alten Sheriffs waren noch scharf wie die eines Raubvogels. »Guten Tag, Sheriff Goodwin«, begrüßte Neil ihn und schüttelte ihm die Hand. Er war überrascht, wie viel Kraft darin steckte.
»Sind Sie vom FBI ?«, fragte Goodwin, wartete die Antwort aber nicht ab. »Sie sehen aus wie vom Scheiß- FBI .«
»Nicht mehr, Sir«, erwiderte Neil. »Doch ich arbeite für das Sonderkommando. Das hier ist Lieutenant Rick Sacowicz von der Arlingtoner Polizei.« Vorstellungsrunde beendet. »Sie waren zu Zeiten aktiv, als Chevy Bankes noch ein Kind war?«
»Seine kleine Schwester verschwand am 14 . Oktober 1991 . Um halb drei kam der Anruf. Es war ein Sonnabend. Ich war gerade vorn bei der Gartenarbeit für den Hochzeitsempfang meiner Tochter. Sie wollte in der darauffolgenden Woche heiraten.«
Neil warf Rick einen Blick zu, dann sah er Waite an, der grinste. »Ich hab’s Ihnen ja gesagt.«
»Was können Sie uns über Chevy erzählen?«, fragte Neil.
»Ich kann Ihnen sagen, dass er aus einer völlig irren Familie stammt.«
»Wir sind gerade im Haus gewesen. Auf mich wirkte alles normal.«
»Das ist der Punkt, alles wirkte stets völlig normal. Eine alleinerziehende Mutter, die auf ihren Sohn und ihre kleine Tochter achtgab. Und sich auch eine Weile lang um ihren Vater kümmerte. Dann verschwindet das Mädchen eines Tages, während Chevy mit ihr im Wald ist. Die Mutter flüstert mir zu, dass sie glaubt, Chevy habe dem Kind etwas angetan. Chevy wiederum sagte stets, seine Mutter habe Jenny gehasst.«
»Sie haben sich gegenseitig die Schuld zugewiesen?«, fragte Neil nach.
»Wie ich schon sagte, ziemlich durchgeknallt.«
»Was ist mit dem Großvater?«, wollte Rick wissen.
Goodwin schüttelte den Kopf. »Das war ein mieser alter Scheißkerl, seit ich mich an ihn erinnern kann. Kein Wunder, dass er Chevys Vater vertrieben hat und jeden anderen Jungen, der sich für Peggy interessierte.« Er hielt inne, kramte offenbar in seinem Gedächtnis. »Es ging das Gerücht, Peggy sei schon einmal schwanger gewesen, und Chevy sei bereits ihr zweites Kind.«
Neil runzelte die Stirn. Davon hatten sie bislang noch nichts gehört.
»Es war nur ein Gerücht, wissen Sie. Die Familie Bankes lebte ziemlich zurückgezogen, fast schon einsiedlerisch. Da kommen leicht Gerüchte auf.«
Ein drittes Kind, älter als Chevy. Der Gedanke, der Neil beim Betrachten der Bibel ansatzweise durch den Kopf gegangen war, kehrte nun zurück:
Das
war es, was man normalerweise auf der ersten Seite einer Familienbibel las: die Geburts- und Sterbedaten der Familienmitglieder.
Aha.
»Auf jeden Fall wurde der alte Mann krank«, fuhr Goodwin fort, um Ricks Frage zu beantworten. »Er litt lange Zeit, es war Krebs, glaube ich, und er starb kurz nach Jennys Geburt. Danach ist Peggy durchgedreht, hat behauptet, Jenny hätte alles Schlimme von ihrem Grandpa geerbt. Doch sie hielt nicht viel von Ärzten, um ehrlich zu sein. Ich denke, es war Chevy, der sich um alles gekümmert hat, nachdem die Mutter ihren Verstand verloren hatte.«
»Ist jemals der Verdacht aufgekommen, dass Peggys Tod kein Selbstmord war?«
»Sie meinen, ob ein Vierzehnjähriger mit dem Mord an ihr davongekommen sei? Klug genug war Chevy. Eine
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