Puppenrache
behalten? Es hatte ihr nicht geholfen. Er hatte sie trotzdem gefunden. Sie holte Luft, räusperte sich. Sie musste ihm ja nicht gleich alles erzählen…
»Ich bin ihm entkommen«, begann sie, »vor drei Jahren. Er wurde gefasst und kam ins Gefängnis. Schon als er noch in Untersuchungshaft war, hat er gedroht, mich umzubringen. Ich hab Briefe gekriegt und mein Hund wurde vergiftet. Die Polizei hat es ernst genommen und ich bekam einen neuen Namen und einen neuen Pass und zog von Brisbane nach Sydney. Ich durfte mich niemandem anvertrauen, durfte nie wieder meine Freunde anrufen oder treffen. Weil man nicht wusste, wo er seine Informationen herbekam. Und meine Mutter bekam auch einen neuen Namen und zog in einen anderen Stadtteil. Eigentlich durfte ich zu ihr auch keinen Kontakt haben.«
Sie hielt inne. Wie nüchtern sich das alles anhörte. In Wirklichkeit war es die Hölle gewesen. Nie hätte sie sich vorgestellt, wie schrecklich es war, so allein zu sein. Sie sah wieder das Wohnheim vor sich, in dem der Zeugenschutz ein Zimmer für sie organisiert hatte. Offiziell hieß es, ihre Eltern wären bei einem Unfall ums Leben gekommen. Wie schäbig war sie sich vorgekommen, wenn andere sie deswegen bemitleideten oder sie trösten wollten. Deshalb hatte sie sich dann auch immer weiter zurückgezogen und nie versucht, Freundschaft zu schließen. Bald hatten es auch die anderen aufgegeben, sich um sie zu bemühen. In dieser Zeit war die Sehnsucht nach ihrer Mutter am schlimmsten gewesen und sie hatte sich oft gewünscht, wieder ein kleines Mädchen zu sein, das nur an der Hand der Mutter das Haus verlässt und sonst behütet im Garten und im Wohnzimmer spielt…
»Und weiter?« Chris’ Frage riss sie ins Jetzt zurück.
»Vor ein paar Tagen ist er aus dem Gefängnis ausgebrochen«, fuhr sie fort. »Er hat mich in Sydney gefunden. Ich hab den Zeugenschutz angerufen. Sie haben mir die Wohnung in Melbourne verschafft. Und Tim kam jeden Tag vorbei.« Sie wollte weinen, hustete stattdessen. Tim…
»Er… sollte mich beschützen. Ich hab ihn angerufen, ich wollte, dass er vorbeikommt. Ich hab solche Angst gehabt.« Sie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. »Ich bin schuld…«, murmelte sie, »seine Frau… sie wartet heute umsonst… ich bin schuld…« Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Ich bin schuld, hallte es in ihren Ohren und sie wollte dagegen anschreien, aber sie fühlte sich wie tot.
»Hey«, sagte Chris, »du bist nicht schuld. Du konntest doch nicht wissen, dass dieser Kerl dir auflauert.« Sara schüttelte den Kopf. Die schreckliche Wahrheit stand ihr klar vor Augen. »Versteh doch! Ich hätte im Apartment bleiben sollen, bis sie ihn gefunden haben. Aber ich hab mir einen Job gesucht, weil ich es in der Wohnung nicht ausgehalten habe! Ich bin diejenige, die sich nicht an die Abmachung gehalten hat! Ich hab Tim angelogen! Und deshalb… nur deshalb ist er jetzt tot. Weil ich ihn angelogen habe! Ich!« Sie fühlte sich so schuldig, so verzweifelt.
»Sara, beruhig dich erst mal!« Zögernd griff er nach ihrer Hand und drückte sie. Sie ließ es zu. »Du hast doch nicht wissen können, dass er dich in Melbourne finden würde. Jemand muss ihm deine Adresse verraten haben.«
Sie sah auf.
»Er hat dich in Sydney aufgespürt und dich in Melbourne gefunden. Jemand hat dich verraten, Sara.«
Er hatte recht. Jemand hatte sie verraten. Wieder spürte sie dieses nagende Gefühl in ihrem Bauch, wieder war es die gleiche Frage, die sie sich schon vor ein paar Tagen gestellt hatte, als sie mit Tim im Auto gesessen hatte. Aber wer? Wer hatte sie verraten? Nate? Dave? Leute vom Zeugenschutz?
Das wollte sie nicht glauben. Sie konnte nicht an allem zweifeln. Sie wollte es nicht. Auf etwas musste sie sich doch verlassen können!
Wer aber konnte es sonst gewesen sein? Ihre Gedanken drehten sich immer schneller. Fragen über Fragen, zu denen sie keine Antworten fand. Nur eines begriff sie: Sie konnte niemandem trauen. Ihr Blick wanderte zu Chris. Er sah nachdenklich auf die Straße. Wohin fuhren sie eigentlich? Und – wer war er überhaupt?
Er wandte sich zu ihr. Die Anzeigen am Armaturenbrett tauchten sein Gesicht in ein fahles Rot. Plötzlich waren ihre Hände wieder feucht und eiskalt. In ihren Ohren surrte ein hoher Ton. »Wohin fahren wir?«, fragte sie.
Sie starrte auf die Straße. Keine Panik… Keine Panik, sagte sie sich.
»Ich fahr dich zur Polizei«, beantwortete er ihre Frage und
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