Puppenspiele
mal mit der Mitwohnzentrale gesprochen, weil ich auf die Idee kam, dass unser Mann in München vielleicht auch … Ich habe alle Unterlagen gewälzt, eine Heidenarbeit … Hat sich aber gelohnt! Er …«
»… hat unter dem Namen Frank Niklas Stein was angemietet in der …«, Christian blickt kurz auf Daniels Laptop, »… Georgenstraße 17.«
Auf der anderen Seite der Leitung war es still. Striebeck hatte es schlicht die Sprache verschlagen.
»Wir haben es auch gerade erst herausbekommen. Redest du mit München, oder soll ich?«
»Du bist der Boss«, kam es mürrisch von Striebeck.
»Ich wäre froh, wenn ihr das übernehmen würdet. Vielleicht kann einer von euch hinfliegen und die ersten Maßnahmen persönlich leiten. Das gleiche Prozedere wie in Berlin: Spurensicherung, obwohl es lange her ist und so weiter …«
»Okay.«
»Ich verlasse mich auf dich. Voll und ganz.«
Christian legte zufrieden auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in München mehr herausfanden als in Berlin war gering. Zumal der Mord in München schon Monate zurücklag. Aber es war eine Spur.
Berlin.
Petra Rahnberg saß in ihrer Schöneberger Wohnung am Schreibtisch und dachte nach. Sie wusste, dass die Frage nach dem Warum die quälendste war, weil jede mögliche Teilantwort nur weitere Fragen eröffnete. Aber es machte sie schier wahnsinnig, nicht zu begreifen, warum jemand das Wertvollste, was es für sie auf der Welt gab, aus dem Leben gerissen hatte. Warum ihr einziges Kind einen so absurden und gewalttätigen Tod sterben musste. Wenn sie an die Fotos dachte, die sie auf dem Polizeipräsidium gesehen hatte, krampften sich ihre Eingeweide zu einem heißglühenden Ball zusammen. Petra Rahnberg hatte seit Tagen kaum etwas gegessen. Wenn sie nicht ein so kämpferischer Charakter gewesen wäre, sie hätte nur noch auf ihrem Sofa gesessen, ins Nichts gestarrt und darauf gewartet, dass die Nacht den Tag ablöste und der Tag die Nacht. Einfach darauf gewartet, dass es vorbei war. Irgendwann. Der Schmerz, die Verzweiflung, das Leben. Doch die Frage nach dem Warum hielt sie in der Wirklichkeit, trieb sie an, zwang sie zur Nahrungsaufnahme und zum Denken.
Um sie herum lagen aufgeschlagene Bücher, vollgekritzelte Notizzettel und Ausdrucke, lose geordnet in verschiedene Stapel. Der Bildschirm ihres Laptops war die einzige Lichtquelle. Petra Rahnberg rieb sich über die schmerzenden Augen und schaltete die Schreibtischlampe an. Von Sybille Weininger hatte sie telefonisch erfahren, dass die Leiche von Mira ebenfalls einen Spiegel in der Hand gehalten hatte. Darin musste irgendeine Botschaft verborgen sein. Petra Rahnberg hatte keine Ahnung von Polizeiarbeit. Sie war Literaturwissenschaftlerin. Also recherchierte sie die Bedeutung des Spiegels als Metapher – ein Thema, das in der Literatur wie auch in der Philosophie und Psychologie eine erhebliche Aufmerksamkeit genoss und zwar seit Jahrhunderten. Die Fülle des Materials war unüberschaubar. Um ihre Gedanken in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, sah sie ihre handschriftlichen Notizen auf der losen Zettelsammlung noch einmal durch. Sie nippte abwesend an ihrem schon längst kalten Tee und las:
Alte Geschichten, in denen der Spiegel eine zentrale Rolle spielt: Teil der »Metamorphosen« von Ovid … die Narziss-Sage … bestens bekannt. Weil er die Nymphe Echo nicht lieben wollte, wurde Narziss dazu verurteilt, sich in sein Spiegelbild zu verlieben und durch seine Selbstliebe zu sterben.
Mit Rotstift schrieb Petra an den Rand des Zettels: »Vorwurf von oder Reflexion über Narzissmus?« Sie legte die Notiz zu der anderen und nahm eine weitere, vor Stunden hingekritzelte Zusammenfassung ihrer Recherchen zur Hand:
Zerschlagene Spiegel, dunkle Spiegel, Spiegel, die Beängstigendes enthüllen … Der Spiegel, Sinnbild für die Menschenseele, verbildlicht Momente der Selbstanschauung, die Suche nach Ich-Gewissheit, aus der sich das Subjekt hervorbringt, wie auch das damit einhergehende Grauen der Selbstschau und deren Verfälschung. Zudem die Möglichkeit des Zersplitterns in unzählige, einander aufhebende Facetten.
Dann nahm sie einen Bogen Papier, der auf einem mit »Kulturgeschichte und Esoterik« bezeichneten kleinen Stapel lag, und las auch diese stichwortartige Zusammenfassung noch einmal aufmerksam durch:
Im alten Ägypten gab es nur ein Wort für »Spiegel« und »Leben«. Keltische Frauen ließen sich mit ihren Spiegeln begraben, da sie die Spiegel für ihre
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