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Puppenspiele

Puppenspiele

Titel: Puppenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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Seelenträger hielt. In Indien wurde die Große Göttin auch »Spiegel des Abgrundes« genannt, in dem sich der Große Gott (Shiva Mahadeva) ständig selbst betrachtet. Hexen wurde nachgesagt, mithilfe magischer Spiegel zu übersinnlichen Erkenntnissen zu kommen.
    Wenn die gesamte Existenz nur Reflektion einer verborgenen Wahrheit ist (Platon), dann kehrt der Blick durch das »Tor« des Spiegels diesen Prozess um und zeigt die echte Wirklichkeit …
    Beim alten Brauch, vor dem Gesicht einer sterbenden Person einen Spiegel zu platzieren, ging es nicht darum, den Stillstand des Atems zu kontrollieren, sondern die flüchtige Seele auf diese Weise einzufangen. Spiegel galten immer als Seelenfänger.
     
    Petra unterstrich mit dickem Rotstift das Wort »Seelenfänger«. Müde lehnte sie sich zurück und sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Sie hatte das Gefühl, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Es gab erstaunlich viele Lesarten für die Spiegelmetapher. Und dass es beim Phänomen der Spiegelung letztlich immer um die Frage geht, was ein Betrachter im Spiegel überhaupt zu erkennen vermag, brachte sie auch nicht weiter. Sie stand auf, schaltete die Schreibtischlampe aus und ging ins Bad. Beim Zähneputzen fragte sie sich entmutigt, ob ihre wissenschaftliche Herangehensweise überhaupt irgendeinen Sinn machte. Schließlich wollte sie nachvollziehen, was im kranken Hirn eines Mörders vor sich ging. War das überhaupt möglich?

Hamburg.
    Petra Rahnberg hatte keine Ahnung, dass einige Stunden zuvor in Hamburg Yvonne, die dreiundzwanzigjährige Psychologiestudentin und Assistentin der Soko Bund, mit Christian bei ihm zu Hause über ähnlichen Texten brütete mit genau der gleichen Zielsetzung. Yvonne jedoch war im Gegensatz zu Petra Rahnberg ganz sicher, dass der wissenschaftliche Zugang der einzig gültige Weg war, sich einem kranken Hirn zu nähern. Vor dem empathischen Weg, dem gefühlsmäßigen Sich-Hineinversetzen in die pathologische Gedankenwelt eines Killers, hatte Anna sie mehrfach gewarnt und dabei Nietzsche zitiert: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
    »Letztlich geht es bei dem Spiegel immer um das Motiv ›Erkenne dich selbst‹«, fasste Yvonne für Christian zusammen.
    Christian stand am Fenster. Er hatte wiederholt versucht, Anna telefonisch zu erreichen, doch immer war die Mailbox angesprungen. Er war sogar so weit gegangen, Pete anzurufen – mit dem gleichen Misserfolg. Christian spürte wieder, wie der Stachel der Eifersucht zu bohren begann. Das verursachte ihm schlechte Laune. Er beobachtete die riesigen dunklen Cumuluswolken, die sich bedrohlich aufeinanderschichteten und Vorboten eines heftigen Sommergewitters waren. In der Ferne zuckten erste Blitze über den späten Nachmittagshimmel. Christian versuchte, sich auf den Fall zu konzentrieren. Er wandte sich zu Yvonne um: »Du bist schon eine richtige kleine Profilerin.«
    Yvonne lächelte stolz. »Frage ist nur, was genau das Opfer erkennen soll. Dass sie ein herzloser, unmenschlicher Freak ist?«
    »Nächste Frage: Waren Mira Weininger und Catrin Rahnberg herzlose, unmenschliche Freaks? Oder hat er sie durch die Morde erst dazu ge macht?«
    »Nächste Frage: Wenn er sie dazu gemacht hat, warum?«
    »Ja. Warum?«, sagte Christian und wandte sich wieder den ineinanderwabernden Wolkenbergen zu.
    24. August 2009:
Tübingen.
    Am darauffolgenden Nachmittag saß Yvonne in Tübingen am Neckar in der Nähe des Hölderlinturms auf einer Bank und versuchte ihre Aufregung mit dem Lesen von Hölderlin-Gedichten zu bekämpfen. Sie hatte sich den Gedichtband am Morgen im Tübinger Bahnhof gekauft. Yvonne nutzte jede sich bietende Gelegenheit, sich möglichst breit zu bilden. Doch sie konnte sich nicht auf die Gedichte konzentrieren. Immer wieder schweifte ihr Blick von dem Buch ab, strich über die Grünflächen am Neckar und die Trauerweiden, deren Zweige sich tief bis zur Wasseroberfläche neigten. Sie fragte sich, ob Sarah Kopper wohl auch hier gesessen und ihren Gedanken nachgehangen hatte. Vielleicht war sie sogar mit ihrem Freund hiergewesen, dem mutmaßlichen Mörder, der ihr schließlich ein Messer ins Herz rammte. Sarah war im gleichen Alter wie Yvonne gewesen. Yvonne dachte darüber nach, was sie selbst noch von ihrem Leben erwartete: alles. Die Gewissheit, dass es heute noch vorbei sein konnte,

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