Puppenspiele
Sobald er ihre Fragen beantworten würde. Ehrlich beantworten würde. Dann schlug die Stunde der Wahrheit.
Essen.
Das St.-Annen-Heim für Sozialwaisen lag am Stadtrand, eingebettet in eine große Wiese, die jedoch ziemlich ramponiert aussah. Der Eingang des dreistöckigen Gebäudes wurde gesäumt von zwei großen Blumenkübeln, in denen einige Primeln inmitten von ausgedrückten Kippen vor sich hin darbten.
Thomas Howela fing an zu schwitzen, sobald er seinen klimatisierten Wagen verließ und sich der Augusthitze aussetzte. Es war schon fast acht Uhr abends, aber die tief stehende Sonne strahlte immer noch ungebremst auf die dampfende Stadt. An den Blumenkübeln standen zwei geschlechtlich kaum zu definierende Jugendliche, die sich gegenseitig die Zungen tief in die Hälse steckten, vorbei an jeder Menge Lippen-Piercings. Howela fragte sie, wo er den Heimleiter Rainer Carstens finden könnte. Er bekam keine Antwort.
Howela betrat das Haus. Innen war es angenehm kühl. Er öffnete ein paar Türen, identifizierte die Küche einer Wohngruppe, einen Aufenthaltsraum mit Fernseher, Büchern und Brettspielen und traf schließlich auf ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren, das auf der untersten Stufe einer Treppe saß und ihrer zerfledderten Puppe etwas von einer Reise nach Panama erzählte. Als Howela sie nach Rainer Carstens fragte, sah sie ihn neugierig an, dann lächelte sie und zeigte nach hinten durch den Flur, wo sich zwei weitere Türen befanden.
Hinter einer saß Carstens, der sich sofort erhob und Howela mit kräftigem Handschlag und herzlichem Lächeln begrüßte. Rainer Carstens war etwa Mitte fünfzig, trug seine grauen Haare raspelkurz und war erheblich größer und noch dicker als Howela. Dennoch wirkte er nicht halb so schwabbelig, sondern eher kompakt und kräftig. Howela fand, dass sein Gegenüber aussah wie ein Kodiakbär. Er vermutete, dass Carstens diese Respekt einflößende Statur bei so manchem Jugendlichen, der hier zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft erzogen werden sollte, von Nutzen war.
»Schön, dass Sie da sind, Herr Rodenberg!«, dröhnte Carstens’ Bassbariton. »Nennen Sie mich Rainer. Das tun alle hier. Also nur die Erwachsenen – die Kinder brauchen nicht nur Nähe, sondern auch Distanz. Wollen Sie etwas trinken? Bei der Hitze brauche ich mindestens drei Liter pro Tag. Und Sie schwitzen ja auch tüchtig!«
Dankbar nahm Howela das Wasser an und trank es in einem Zug leer. »Nett, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, bin ich im Auftrag eines Notars auf der Suche nach Niklas Schmitt. Sie erinnern sich an ihn?«
Carstens nickte: »Es gibt keinen, an den ich mich so gut erinnere. Niklas war etwas ganz Besonderes.«
»Inwiefern?«
»Nun ja, wir haben hier hauptsächlich Sozialwaisen, also Kinder, die Eltern haben, zumindest einen Elternteil. Der aber nicht in der Lage ist, sich um das Kind zu kümmern. Ich sag mal salopp, der Klassiker ist: Mutter Prostituierte, Vater im Knast. Oder so ähnlich.«
»Das war ja bei Niklas nicht der Fall. Ich habe gestern mit Herrn und Frau Schmitt geredet, die ihn nach seiner Geburt adoptiert hatten.«
Carstens schenkte Howela Wasser nach und trank dann den Rest aus der Flasche. Im Haus St. Annen ging es recht ungezwungen zu, fand Howela.
»Ein tragischer Fall, aber so was haben wir hier ständig. Die Schmitts sind anständige Leute. Sie haben sich sicher Mühe gegeben mit Niklas. Nur leider waren sie nicht in der Lage, mit ihm richtig umzugehen.«
»Es wäre sehr nett, wenn Sie mir alles, was Sie über Niklas wissen, zusammenfassen würden. Doch gestatten Sie mir zuerst eine Frage: Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«
»Ich habe seit neun Jahren nichts mehr von ihm gehört.«
»Umso erstaunlicher, dass Sie sich noch so gut an ihn erinnern.«
Carstens lächelte: »Ich glaube, ich erinnere mich an jedes Kind, an jeden Jugendlichen, den ich im Laufe der letzten dreißig Jahre betreut habe. Aber bleiben wir bei Niklas. Er kam im Alter von sieben zu uns. Das Jugendamt hatte eingesehen, dass die Schmitts mit seiner Erziehung total überfordert waren. Er klaute wie ein Rabe, war gewalttätig und schlecht in der Schule. Keine gute Prognose. In dem Alter! Wenn die Jungs erst mal in die Pubertät kommen, geht’s nämlich erst richtig los. Niklas hätte das Haus Schmitt zur Achterbahn gemacht, das können Sie mir glauben!« Dabei lachte Carstens dröhnend, als wäre er insgeheim ein bisschen stolz
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