Puppenspiele
Polizeipräsidium am ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof. Volker war mit Striebeck zum Essen gegangen, doch Christian hatte sich nicht anschließen wollen, obwohl auch er hungrig war. Er wollte allein sein, weder reden noch zuhören müssen. Er wollte das Tosen von tausend Informationen in seinem Kopf loswerden, indem er durch ihm unbekannte Straßen lief. Sein Blick blieb nirgends hängen, keine Ecke war mit Erinnerungen besetzt, er kannte niemanden, und niemand kannte ihn. Beim ziellosen Laufen sortierte Christian in Gedanken die letzten Tage. Allen bisherigen Zeugen, sowohl in Berlin als auch in München, war die Zeichnung von Liesel Stamminger vorgelegt worden. Einige waren sich ganz sicher gewesen, in dem Porträt Frank Niklas Stein oder Thorsten Brinken zu erkennen. Andere wiederum waren sicher, dass sie den Mann noch nie gesehen hatten. Uneins waren die Zeugenaussagen wie schon zu Beginn der Befragungen auch weiterhin über Haar- und Augenfarbe. Der Mörder schien nicht nur seinen Namen und seine biografischen Angaben zu wechseln, sondern auch sein Aussehen ständig zu verändern.
Sie hatten das Porträt heute an die Presse gegeben und die Öffentlichkeit um Mithilfe gebeten. Christian wusste, dass ihnen dieser Schritt vor allem unendlich viel Arbeit und falsche Spuren einbringen würde. Dennoch mussten sie es versuchen. Er war viel zu erfahren, um zu glauben, dass nur knallharte Ermittlungsarbeit zum Erfolg führen würde. Oft gehörte auch ein wenig Glück dazu. Natürlich wurde das in Pressekonferenzen nie erwähnt, und in der Tat waren gezielte Ermittlungen und kluge, mitdenkende Beamte die Basis des Erfolgs. Auch die Zeit war ein nicht zu unterschätzender Faktor. Doch ohne ein wenig Glück für die Ermittler konnte ein Mörder Wochen oder Monate durch die Gegend reisen und seinem blutigen Handwerk nachgehen. Manche wurden nie gefasst. Es war immer das Gleiche, was Christian an seinem Beruf fast wahnsinnig machte: das Wissen, niemals schnell genug zu sein. Das Warten auf das nächste Opfer.
Als Christian an einem Restaurant mit Straßenbestuhlung vorbeikam, setzte er sich, bestellte ein Bier und ein Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat. Er musste dringend etwas essen. Wenn er sich mit einem Mordfall beschäftigte, ignorierte Christian häufig, dass auch er einen Körper besaß, der funktionstüchtig gehalten werden musste. Er vergaß das Essen einfach. Seit er mit Anna zusammen war, hatte sie in den harten Fällen von körperlicher Vernachlässigung die Rolle der gestrengen Ernährungsaufsicht übernommen. Sie fehlte ihm schrecklich. Aber fast jedes Mal, wenn er sie anrief, erreichte er nur die Mailbox. Vorgestern hatte sie ihm erklärt, dass sie von einem Kurs zum anderen hetzte, dass die Ausbildung beim FBI äußerst straff durchorganisiert wäre und sie stets früh und todmüde ins Bett falle. Natürlich glaubte er ihr. Natürlich stellte er sich nicht vor, dass sie abends mit jungen Agents in die Kneipe ging, um ein paar Fosters zu trinken und ein wenig zu flirten. Natürlich nahm er nicht an, dass Pete die Zeit nutzen würde, um wieder an die alte Leidenschaft zwischen ihm und Anna anzuknüpfen. Natürlich verschwendete er keinen Gedanken daran, er könnte sie verlieren. Natürlich nicht!
Das Essen tat ihm gut. Christian begann sich zu entspannen und seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Er war durch einen Park gelaufen, hatte ein paar Straßen gequert und befand sich nun irgendwo am Landwehrkanal. Das Leben um ihn herum lief in beschaulichen Bahnen: Verliebte junge Pärchen, alte Damen, die ihre Schoßhunde spazieren führten, Punks und mehr oder weniger durchtrainierte Schwule bevölkerten den Kiez. Nach dem zweiten Bier bekam Christian Lust auf Gesellschaft. Er wollte sich jedoch nicht Volkers und Striebecks Anekdoten über die absurdesten Zeugenaussagen und den dümmsten Einbrecher aller Zeiten anhören, das kannte er zur Genüge. Also rief er, einem Impuls folgend, Petra Rahnberg an. Sie meldete sich aufgeschreckt, hoffte auf gute Neuigkeiten, fürchtete schlechte. Als sie durch Christians verlegene Frage nach einem gemeinsamen Bier verstand, dass er sich nur ein wenig unterhalten wollte, lud sie ihn zu sich nach Hause auf ein Glas Wein ein.
Christian fühlte sich in Petra Rahnbergs Altbauwohnung sofort wohl. Sie erinnerte ihn ein wenig an Annas kleines Stadthaus im Hamburger Generalsviertel. Die Wände waren von brechend vollen Bücherregalen bedeckt, stapelweise lag Fachliteratur auf
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