Puppenspiele
Übelkeit überrollte sie. Sarah. Beatrix. Bald würde über eine neue Leiche in Straßburg berichtet werden. Das Päckchen stand vor ihren Augen auf dem Tisch. Clarissa wollte es nicht öffnen. Sie würde es entsorgen, ohne hineinzusehen.
Noch immer weigerte sich Clarissa, eine Mitverantwortung für die Geschehnisse zu übernehmen. Sie betrachtete sich als Opfer eines komplett Wahnsinnigen. Sie verdrängte, dass sie dem mörderischen Treiben ein schnelles Ende setzen konnte. Sie musste nur zum Telefon greifen und die Polizei anrufen. Und sich selbst und ihre Zukunft abschreiben.
TEIL III
FRAGESPIELE
Haltern am See.
Jessica saß auf der in den Halterner Stausee hineinragenden Halbinsel in der Nähe der Blumenstraße und bräunte ihren gerade erst sechzehnjährigen Körper, der von einem knappen Bikini mehr freigelegt als bedeckt wurde. Ihre kleine Schwester Jennifer spielte unweit im Wasser. Jessica war sauer, dass sie die Zehnjährige schon wieder hatte mitnehmen müssen. Sie wäre viel lieber auf der kleinen Insel inmitten des Sees gewesen, wo die meisten ihrer Schulfreunde den späten Sommernachmittag auf einem ungestörten Fleck namens »Liebeswiese« genossen und herumknutschten. Allerdings waren dort Menschen unter fünfzehn und über zwanzig nicht willkommen. Also musste sie wegen Jenny auf die Freuden der Jugend verzichten und ihre Schwester in der unfreiwilligen Einsamkeit des falschen Seeufers hüten. Immerhin lag Jessica an einer Stelle, von der aus sie über den See zur Liebeswiese hin sehen konnte. Sie hatte das Fernglas ihres Vaters mitgenommen. Denn heute war dieser neue Schüler Hauke zum ersten Mal mit den anderen zum See gekommen. Jessica sah angestrengt durch das Fernglas und ärgerte sich maßlos, als sie beobachtete, wie ihre Klassenkameradin Birte sich an Hauke heranschmiss. Hauke hatte schon am ersten Tag seines Erscheinens auf der Schule eine Art kollektiven Seufzer bei den Schülerinnen der Mittel- und Oberstufe ausgelöst. Er ging in die letzte Klasse, war groß, schlank, sportlich, hatte sich einen kleinen, gut getrimmten Bart in der Mitte des Kinns gezüchtet und war einfach total cool. Außerdem besaß er bereits einen Führerschein und durfte ab und zu mit dem Cabrio seiner Mutter durch die Gegend fahren. Jedenfalls war er schon zweimal abends damit vor der Eisdiele, dem offiziellen Treffpunkt der hiesigen Jugend, gesichtet worden. Und nun baggerte die phantastisch aussehende Birte an Hauke herum. Jessica wollte sich mit diesem schmerzhaften Anblick nicht länger quälen und schwenkte ihr Fernglas zur Seite. Lieber studierte sie spielende Eichhörnchen an der Uferböschung als den Untergang ihrer romantischen Phantasien.
Auf der Suche nach unverfänglichen Themen aus Flora und Fauna entdeckte sie jedoch ein zweites, ihr völlig unbekanntes Exemplar der Gattung »cooler Typ«. Etwa zweihundert Meter rechts von ihr auf der gleichen Uferseite saß ein junger Mann ganz entspannt an einen Baum gelehnt. Er blickte zu ihr herüber. Sie konnte sein Alter selbst durch das Fernglas nicht gut einschätzen, denn er trug eine Baseballcap und eine Sonnenbrille. Aber sie konnte deutlich erkennen, dass er gut aussah. Und anscheinend hatte er hervorragende Augen, denn er grinste Jessica an. Ertappt nahm sie ihr Fernglas herunter und wurde rot. Ohne Fernglas konnte sie aber weder ihn noch sein süßes Lächeln deutlich sehen. Und sie konnte nicht erkennen, ob er immer noch in ihre Richtung blickte oder sich abgewandt hatte. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und hob das Glas wieder an die Augen. Er sah immer noch zu ihr herüber. Sofort fühlte sie sich wieder erwischt, legte das Fernglas auf die Decke und sich selbst dazu. Der Typ saß rechts von ihr, an einer kleinen Biegung des Seeufers. Also winkelte Jessica ihr rechtes Bein ein wenig an. Zu Hause vor dem Spiegel hatte sie gesehen, dass ihre Beine in einem leicht angewinkelten Zustand am besten aussahen. Außerdem legte sie die Arme nach oben über ihren Kopf. Dadurch streckte sich ihr Körper, der Bauch sackte ein und die Hüftknochen standen ein wenig vor. Das wirkte sexy. Viele Models posten so.
Jessica war ein wenig aufgeregt. Es wäre voll krass, wenn sie einen Typen kennenlernen würde, der womöglich noch cooler als Hauke war. Bestimmt hatte er schon ein Auto. Er wirkte jedenfalls älter als achtzehn. Vielleicht könnte er sie von der Schule abholen, und Hauke und die anderen würden sehen, wie sie in seinen Ford Mustang einstieg, die
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