Puppentod
Nun schlug er die Augen auf. Wie spät war es? Er fand seine Uhr nicht auf dem Nachttisch und versuchte aufzustehen. Das aber war nicht so einfach, denn kaum hatte er festen Boden unter den Füßen, überkam ihn ein leichtes Schwindelgefühl. Die Erinnerung an den
Mamajuana -Schnaps kehrte zurück. Kopfschmerzen hatte er jedoch nicht, und ihm war auch nicht schlecht. Ein starker Kaffee und eine kalte Dusche müssten genügen, ihn wieder fit zu kriegen.
Auf dem Küchentisch fand er einen Zettel, auf dem stand: Bin schwimmen! War Lisa schon wieder so früh aufgestanden?
Er stellte einen Kaffeebecher in die Espressomaschine und betätigte den Schalter, wobei sein Blick auf die Wanduhr fiel. Es war zwölf Uhr vorbei.
Im ersten Moment erschrak er, bis ihm einfiel, dass er Urlaub hatte. Deshalb nahm er seinen Kaffee, ging hinaus auf die Veranda, sank in einen der Korbsessel und blickte verträumt auf den Horizont. Es war kaum zu erkennen, wo das Meer endete und der Himmel begann, weil beides in diesem satten Türkisblau erstrahlte. Diese Farbe schien es nur hier zu geben, denn er hatte sie in einer solchen Intensität bisher nirgendwo gesehen. Der liebe Gott war hier sehr verschwenderisch gewesen. Die Blüten der Blumen waren bunter, das Grün der Pflanzen kräftiger, der Sand weißer und das Wasser blauer als anderswo. Sogar das Licht der Sonne war heller, gelber und strahlender.
Er räkelte sich wohlig in den dicken, flauschigen Kissen. An diesem schattigen Plätzchen ließ es sich aushalten. Hier, auf dieser Veranda, könnte er ganz in Ruhe seinen Roman zu Ende schreiben. Dabei fiel ihm auf, dass er Lisa noch nie von seiner Schriftstellerei erzählt hatte. Obwohl der Roman, an dem er momentan arbeitete, nicht sein erster war. Während seines dreijährigen Aufenthaltes in China hatte er einen Wirtschaftsthriller geschrieben
und diesen sogar an einen großen Verlag geschickt. Allerdings war das inzwischen über ein Jahr her, und er hatte bis heute keine Antwort erhalten. Sein Manuskript schien auf kein besonders großes Interesse gestoßen zu sein.
Er trank den letzten Schluck Kaffee, als er Lisa vom Pool kommen sah. Sie war in ein buntes, langes Tuch eingewickelt, das an ihrem nassen Körper klebte. Als sie auf die Veranda kam und ihm einen Kuss gab, tropfte das Wasser aus ihren Haaren auf seinen Bauch.
»Wieso hast du mich nicht geweckt?«, fragte er.
»Weil du so schön geschlafen hast«, erwiderte sie und fügte spitz hinzu: »Von diesem angeblichen Potenzmittel Mamajuana werden die Männer komischerweise immer todmüde.«
Er lachte, und während sie sich auf seinen Schoß setzte, hatte er eine Idee.
»Was hältst du davon, wenn wir zwei wieder nach oben gehen und …«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Abgelehnt. Wir haben jetzt etwas anderes vor und müssen uns deshalb ziemlich beeilen.«
»Was denn?«, wollte Michael wissen.
»Das erzähle ich dir später«, sagte sie, sprang auf, lief ins Haus. »Nun komm schon! Wir müssen los!«, rief sie ihm von dort noch einmal zu.
Nach fast dreistündiger Autofahrt erreichten sie ihr Ziel, die Stadt Dajabón an der Grenze zu Haiti. Laut Lisa gab
es hier einen großen Markt. Was sie dort kaufen wollte, hatte sie Michael aber nicht verraten.
Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, umso überfüllter wurden die Straßen, und es herrschte ein schreckliches Durcheinander. Die Kreuzungen waren verstopft, weil die Autofahrer sich in aller Ruhe darauf verständigten, wer wem die Vorfahrt gewährte, und sich dabei auch gleich nach dem Befinden der Familie erkundigten oder aktuelle Themen diskutierten. Dazwischen drängelten sich die Motorroller, auf denen teilweise ganze Familien saßen, und die Fußgänger überquerten in aller Seelenruhe mit ihren vollgepackten Plastiktüten die Straßen, ohne auch nur ein einziges Mal nach rechts oder links zu schauen.
Lisa und Michael quälten sich durch das Chaos, bis Lisa schließlich genug hatte und kurzerhand in eine Seitenstraße einbog, wo sie den Jeep im absoluten Halteverbot abstellte. Doch das war ihr gleichgültig. Der Markt war bald zu Ende, und sie hatte es eilig.
Sie holte einen Korb aus dem Kofferraum, der mit einem Tuch bedeckt und zu Michaels Erstaunen randvoll gefüllt war. Mit einem vollen Korb auf einen Markt zu gehen fand er ungewöhnlich.
»Was machst du damit?«, fragte er deshalb.
»Den hat Margerita mir mitgegeben«, sagte sie. »Ich muss ihn jemandem bringen.«
Michaels Angebot, den Korb zu tragen,
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