Puppentod
Gern hätte Michael das Kriegsbeil wieder ausgegraben, eines der Bilder in die Hand genommen und gesagt: Du bist gut getroffen. Aber er wagte nicht, es auf die Spitze zu treiben. Diese Geschichte war keine vorübergehende Krise, das verriet ein Blick in Rudolfs gequältes Gesicht. Ihm war klar, dass diese Situation nicht mit ein paar Geschenken, ein bisschen Reue und einem Candlelight-Dinner wieder ins Lot zu bringen war. Hilde war tief getroffen, und niemand wusste, wie sie darauf reagieren würde.
Sie mussten nicht lange warten.
Nur wenig später hörten sie Hilde die Treppe herunterkommen und eilten ihr entgegen.
Sie hatte sich umgezogen. Sie trug jetzt eine beigefarbene Hose und einen braunen Pullover, in der rechten
Hand hielt sie einen Koffer und in der linken ein Beautycase.
»Hilde, was soll das?«, rief Rudolf entsetzt.
»Ich werde gehen«, sagte sie entschlossen. Sie hatte geweint, das sah Michael ihren geröteten Augen an.
»Aber Hilde …«
»Ich habe dich immer darum gebeten, mich niemals zu betrügen«, schnitt sie ihm das Wort ab, »weil ich das nicht verkraften würde. Das habe ich dir immer gesagt. Du hast mich oft schlecht behandelt, mich angeschrien, keine Zeit für mich gehabt, und meine Wünsche waren dir gleichgültig. Jawohl, vollkommen egal! Alles habe ich dir verziehen. Alles! Aber das, Rudolf, werde ich dir nicht verzeihen.«
So zornig hatte Michael seine Mutter noch nie gesehen.
»Hilde … lass uns miteinander reden«, flehte Rudolf sie an.
»Reden?« Sie lachte verbittert auf, stellte Koffer und Beautycase ab, um ihren Mantel anzuziehen.
»Aber Hilde, du kannst doch jetzt nicht gehen.« Rudolf schien vollkommen ratlos zu sein. Noch nie hatte Michael seinen Vater in diesem Zustand erlebt.
»Und ob ich das kann«, entgegnete Hilde. »Es wird sogar höchste Zeit dafür.«
»Bitte bleib hier«, bat Rudolf eindringlich. »Du kannst mich doch nicht einfach so verlassen. Wo willst du überhaupt hin?«
»Zu Renate!« Entschlossen nahm sie den Koffer und das Beautycase und ging zur Tür. »Ich werde mich von
dir scheiden lassen. Du hörst von meinem Anwalt«, rief sie ihm zu, bevor die Tür laut krachend ins Schloss fiel.
Niedergeschlagen drehte Rudolf sich zu Michael um und stammelte: »Sie kann doch nicht einfach so gehen.«
Michael schwieg. Was sollte er dazu sagen? Der große König war seiner Macht enthoben, seine Untertanen waren dabei, ihn zu verlassen. Zeit seines Lebens war Rudolf ein Despot gewesen, hatte auf niemanden Rücksicht genommen und die Gefühle anderer mit Füßen getreten. Nun schlug das Leben zurück. Ikarus stürzte ins Meer.
Seinen Vater keines Blickes würdigend, legte Michael den Arm um Lisas Schultern und ging mit ihr wortlos die Treppe hinauf. Dabei hoffte er, Rudolf möge endlich einmal die Bedeutung des Wortes Verzweiflung begreifen.
Als Michael am nächsten Morgen das Sekretariat betrat, berichtete Frau Meierhöfer ihm sofort, dass Martin Schusters Eltern zur Polizei gegangen waren. Ihr Sohn hatte sich nicht mehr bei ihnen gemeldet, und das fanden sie sehr beunruhigend.
Auch Michael war inzwischen davon überzeugt, dass der junge Chemiker nicht zufällig verschwunden war. Kurz zuvor hatte er noch einmal auf dem Parkplatz hinter der Halle zwei nachgesehen. Die gelbe Ente war fort.
Deprimiert ging er in sein Büro. Was war in letzter Zeit nur los? Er hatte das Gefühl, an allen Fronten kämpfen zu müssen. Überall gab es Probleme und Sorgen.
Sein Privatleben war überschattet von Lisas mysteriösem Geheimnis, und in seinem Elternhaus passierten scheußliche Dinge. Auch in der Firma herrschte ein einziges Durcheinander. Da wurden Testergebnisse manipuliert und aus dem Computer gelöscht, und Mitarbeiter verschwanden spurlos von der Bildfläche. Es kam ihm vor, als stehe die ganze Welt buchstäblich kopf. Überall gab es Schwierigkeiten. Doch er konnte nur Schritt für Schritt vorgehen, musste Prioritäten setzen, um sie zu lösen.
Da das Verschwinden von Martin Schuster in den Händen der Polizei gut aufgehoben war, wollte er sich jetzt darum kümmern, die Großmutter des vermissten Mädchens zu finden. Deshalb ging er ins Internet und suchte alle Altersheime rund um den Starnberger See heraus. Am Ende hatte er so viele Adressen und Telefonnummern, dass es Stunden dauern würde, alle anzurufen.
Er begann mit den Häusern in unmittelbarer Umgebung und wiederholte jedes Mal seinen Spruch: Er suche eine alte Dame namens Elbert, der Vorname sei ihm
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