Purgatorio
größten Maßstab verwendet wurde.
Fast alle Zweifamilienhäuser, die ich in Highland Park besucht hatte, wurden von armen Studenten und durchreisenden Dozenten bewohnt, mit Hunderten auf dicken Regalbrettern und Backsteinen aufgereihten Büchern, einem Küchentisch für den Computer und das Mittagessensgeschirr, wenigen Sesseln, dem Fernseher und Mönchspritschen. Emilias Wohnung nahm den ganzen oberen Stock ein: Die überall verstreuten Karten und Pläne übertrumpften die Teppiche und Rüschenvorhänge. Ebenfalls eingeladen war Nancy Frears, um jeder böswilligen Vermutung der Nachbarn einen Riegel vorzuschieben. Während Nancy die Tischdecke und das Teeservice auflegte, führte mich Emilia aufgeregt durch die drei kärglichen Zimmer: das von Kalendern, Thermometern und Fotos von Neffen mit ihren Küssen aus San Antonio in Texas dominierte Schlafzimmer, das Esszimmer mit der kleinen Bibliothek, den beiden großen Besuchersesseln und dem Zeichentisch sowie ein drittes Zimmerchen von zwei auf zwei Metern, das auf das Treppenhaus hinausging und dessen Haupteinrichtungsgegenstand ein Hometrainer war. Die Stirn bot ihm eine Musikanlage mit Bose-Lautsprechern. Zwischen Bach-Suiten und Kammermusikstücken von Charles Valentin Alkan erblickte ich Alben von León Gieco, Almendra und Charly García, und ich stellte mir vor, wie Emilia hier stundenlang ihre Beine modellierte und den Bauch ebnete.
Bevor sie mir etwas über die Stabilene-Folie, die sie dreißig Jahre früher für die Karten gebraucht hatte, erzählen und mir gestatten konnte, mit den Fingern über einige orange, gelb, grün und nachtblau eingefärbte überlebende Muster der Polyesterfolien zu streichen, musste ich das Dickicht häuslicher Tragödien durchdringen, von denen Nancy in Highland Park Bestand aufgenommen hatte: die lautstarken Streitereien der Flemms – Dozenten für Energietechnik –, die ein saftiges Geflecht von Seitensprüngen und katastrophalen Börsenanlagen auf die Straße hinausdringen ließen, den von Pater Landowskis Predigt ausgelösten Skandal, nachdem er vor der Gemeinde zwei katholische Jugendliche wegen einer heimlichen Abtreibung angeprangert hatte, die überraschende Verhaftung – für nur neun Stunden – des ältesten Sohnes von Tom Nizram, eines der Dorfpolizisten, der bei Barnes & Noble eine CD hatte mitgehen lassen. Nancy wusste alles, sogar wann ich aufstand, um die
Times
zu holen, und dass ich sonntags immer enttäuscht war, weil sie später ausgetragen wurde. Ich fragte sie, wie sie es anstellte, so viele Informationen über meilenweit entfernt wohnende Leute zu speichern, und sie antwortete, ein für die Gespräche im Supermarkt oder irgendeinem der Friseursalons offenes Ohr genüge vollauf, um mit einer minimalen Fehlermarge voraussagen zu können, wer wen heiraten oder ein Kind zur Welt bringen und welche Geschäfte über kurz oder lang in Highland Park Bankrott gehen würden.
Nancy fragte mich, ob ich einmal Large Lenny durch die Main Street habe gehen sehen, und ich hatte keine Ahnung, wer das war, bis sie ihn mir beschrieb. Natürlich, sagte ich. Ich habe ihn ständig und immer an denselben Orten kommen und gehen sehen, wie einen Besessenen. Das sei er tatsächlich, antwortete sie, ein Besessener. Er war zwei Meter sieben Zentimeter groß und wog rund hundertsechzig Kilo. Unversehens kam er in den Unterricht der Grundschule gestürzt, um gegen Abtreibung und Euthanasie vom Leder zu ziehen. »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, sagte er dann. »Das Leben, das ich im Himmel gebe, wird niemand auf Erden rauben.« Zweimal war er wegen Störung der öffentlichen Ordnung ins Gefängnis gebracht worden, aber noch vor Ablauf von zwei Stunden wieder freigekommen, da sein gewaltiges Organ, mit dem er unablässig Evangelienverse hinausposaunte, die Polizisten in den Wahnsinn trieb.
Wenn die Kinder aus der Schule kamen, folgte ihnen Large Lenny und predigte: »Es soll euch niemand hintergehen, meine Kinder. Es soll euch niemand hintergehen. Viele werden kommen und lügen, sie sprächen im Namen des Vaters und es nahe das Ende der Zeiten. Doch hört nicht auf sie. Hört einzig und allein auf mich.« Von Schulbeginn an hatten die Kinder die Taschen immer mit harten Keksen und Kreidestummeln vollgestopft, die sie ihm an den Kopf warfen, damit er zu rezitieren aufhöre, aber Large Lenny ließ dem Neuen Testament keine Ruhe. Nichts konnte ihn stoppen. Wenn es dunkel wurde, wenn sich die Leute in ihr Heim
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