Purgatorio
Ich hätte ihn besser vergessen, aber mir wurde klar, dass ich das nie würde tun können. Ich war die Einsamkeit gewohnt, war es gewohnt, allein zurechtzukommen und die sexuellen Annäherungsversuche der Männer von Caracas zu ignorieren, die immun sind gegen Zurückweisungen. Wie ich sagte, ich lebte bloß, um ihn zu finden.
Zweimal trat in der Kinemathek ein Filmkritiker auf mich zu unter dem Vorwand, über Hitchcock zu sprechen. Es war der erste Mann nach Simón, der mir attraktiv erschien, und der Einzige, in den ich mich hätte verlieben können. Er konzentrierte sich auf mich, als gäbe es keine andere Frau auf Erden, verschlang mich mit den Augen, nicht lüstern, sondern mit dem echten Wunsch herauszufinden, wer ich war. Er hatte die zimtfarbene Haut vieler Venezolaner und helle, sehr durchdringende Augen. Nach der Vorführung von
Vertigo
gingen wir im Athenäum von Caracas einen Kaffee trinken. Seine Sprache war knapp und präzis. Er zeigte mir auf, wie viele Spuren von der Impotenz Scotties, Stewarts Figur, Hitchcock schon in den ersten Szenen legt, sein Ungeschick im Umgang mit dem Stock oder dass er sich zwei Jahre lang geweigert hat, mit seiner Freundin ins Bett zu gehen. Wir unterhielten uns über eine Stunde. Beim Abschied lud er mich für den darauffolgenden Sonntag an den Strand ein, was damals in Caracas zu einem Spiel gehörte, das mit Sex endete, und beinahe hätte ich zugesagt. Ich versprach, es mir zu überlegen und ihn anzurufen. Wieder in meiner Wohnung in Chacaíto, merkte ich, dass ich drauf und dran war, einen falschen Schritt zu tun. Ich hätte gern einige Zeit mit ihm verbracht, um mich weniger allein zu fühlen, aber seine Annäherung wäre immer weiter gegangen und unangenehm geworden für uns beide. Mein asketisches Leben war kein normales Leben, und doch fühlte ich mich im Frieden. Ich dachte, ich lehnte männliche Gesellschaft nur ab, weil ich Angst hätte, Simón käme genau dann zurück, wenn ich eine neue Beziehung begänne, doch dem war nicht so. Ich war schlichtweg für niemand verfügbar außer für Simón. Ihn zu verlieren hatte nicht nur mein sexuelles Verlangen, sondern auch alle anderen Verlangen ausgelöscht. Bis ich ihn wiederfände, würde ich nicht mehr ich selbst sein. Nie ging ich in die Kinemathek zurück, und mehrere Wochen lang nahm ich das Telefon gar nicht ab. Ich weiß nicht, wie jener Mann herausfand, dass ich bei der Petroleumgesellschaft arbeitete, jedenfalls hinterließ er dort unendlich viele Nachrichten. Mit der Zeit verlor ich die Angst vor ihm und ging wieder an den Strand, immer an die entferntesten Stellen, wo ich es für unwahrscheinlich hielt, ihm zu begegnen. In Oricao oder Osma wagte ich mich mit der Sängerin Soledad Bravo über wilde Pfade, wo sie beim Dunkelwerden, wenn die Sonne im Meer versank, einer gewaltigen, papayagoldenen Stimme freien Lauf ließ.
Wie lange hast du gebraucht, um zu merken, dass Simón nicht in Caracas war? An deiner Stelle hätte ich nach einem Jahr die Hoffnung verloren.
Fünf Jahre, zwei Monate und einundzwanzig Tage. Vom 15 . Dezember 1983 bis zum 8 . März 1989 . Und wenn ich Venezuela verlassen habe, dann nicht auf eigenen Wunsch. Es war ein Zufall.
Die Kellner des Toscana fragten, ob wir noch einen Wunsch hätten. Es gab keine weiteren Gäste mehr, und von der nachmittags immer lauten Straße war nur das Stottern der Autos zu vernehmen. Zwei Uhr war vorüber, aber Emilia schien kein Bewusstsein mehr für die Zeit und die Welt zu haben. Im bleiernen Flimmern, das durchs Fenster hereindrang, sah ich sie, wie zwei Jahrhunderte früher die Bauern von New Brunswick Mary Ellis gesehen haben mochten: allein am Ufer des Raritan auf einen Mann wartend, der nie kommen würde.
Wir müssen gehen, sagte ich.
Bitte, nur noch ein paar Minuten. Lass mich nicht bei dem Zufall hängen, der mich gezwungen hat, Caracas zu verlassen. Die Geschichte ist kurz. Sie beginnt mit einem anonymen Umschlag. Wer weiß, wie die venezolanische Post heute funktioniert. 1989 war sie chaotisch, und nach den Volksaufständen vom 27 . Februar erst recht. Am Samstag dieser Woche war die Stimmung in der Stadt düster. Aus Angst vor einer weiteren Gewaltwelle ging niemand aus dem Haus. Die Postämter waren geschlossen, aber merkwürdigerweise erreichte mich ein eingeschriebener Brief aus Buenos Aires, allerdings ohne Absender. Misstrauisch öffnete ich den Umschlag. Darin befand sich nur ein Ausschnitt aus der mexikanischen Zeitung
Uno más
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