Purgatorio
uno
mit einem von Simón Cardoso gezeichneten Bericht. Es hätte jemand gleichen Namens sein können, aber der Bericht, in dem die Verfolgung und Verhaftung eines Arbeiterführers der Petroleumgewerkschaft namens »Chinin« geschildert wurde, war mit einer Karte von Ciudad Madero am Golf von Mexiko illustriert, auf der ich die Fehler erkannte, die mein Mann bei den Namen immer beging. Nie habe ich erfahren, wer mir den Ausschnitt schickte, noch wie jemand meine Adresse herausfand, die nur Chela kannte. Der Artikel war schon eine oder zwei Wochen alt, aber die Beklemmung ließ mir keine Ruhe mehr. Mittlerweile war ich stellvertretende Leiterin der Kartographieabteilung, verdiente monatlich tausendzweihundert Dollar und legte fünfhundert davon auf die Seite. Wegen der Ausschreitungen des Volkszorns starteten die Flugzeuge, wann es gerade ging. Ich blieb auf dem Flughafen und schlief auf dem Fußboden. Am 8 . März um sechs Uhr früh wurde über Lautsprecher ein Flug nach D.F. mit Zwischenlandung in Panama angekündigt. Ich weinte, schrie, führte erfundene Krankheiten und Todesfälle in der Familie ins Feld, um einen Platz zu ergattern. So gelangte ich an mein Ziel, genauso schutzlos, wie als ich aus Rio aufgebrochen war. Mit meinen abgewerteten Ersparnissen ließ ich mich in einer Pension von fliegenden Händlern in der Nähe des Zócalo nieder und begann erneut, meine hoffnungslose Liebe zu suchen. Über zwei Jahre sprang ich von einer Illusion zur nächsten, von Zeitungen, die bereits eingegangen waren, zu Käseblättern, die noch gar nie aufgemacht hatten, und steckte die Nase in Piratenagenturen, die utopische Karten für die Träumer zeichnen, welche die Grenze zu den Vereinigten Staaten überschreiten wollen. Ich setzte mein Leben aufs Spiel in hell erleuchteten Sälen, wo die besten Kartographen der Welt mit Hilfe von Computern der jüngsten Generation für die Drogenhändler zwischen ihren Destillieranlagen und ihren Geheimflughäfen unbegangene Routen entdeckten. Manchmal ging ich ihnen zur Hand, sowohl um meine finanzielle Lage zu verbessern, als auch um mich im Schutz der Drogenbosse zu wissen, die durch ihren direkten Draht zur Ausländerbehörde erfahren konnten, wer in Mexiko einreiste und wer das Land verließ.
Du hättest für immer bleiben können.
Vielleicht. Aber eines Morgens erwachte ich in der Gewissheit, dass Simón unerreichbar war. Er lebte, aber er konnte mich nicht sehen. Ich musste aufhören, ihn zu suchen, damit er mich finden konnte. Dieser Gedanke beflügelte mich. Er musste auf dieselbe Weise zurückkommen, wie er gegangen war. Ich spürte, dass es so war, dass es immer so gewesen war und dass es nicht mehr anders sein könnte. Jahrelang hatte mich ein Trugbild in den Fängen gehabt. Ich hatte mich durch Zeichen leiten lassen, die andere vor meinen Augen ausbreiteten, statt durch das, was ich in mir drin sah. Die verlorene Zeit war zwar nicht mehr einzuholen, aber wenigstens konnte ich dazu beitragen, dass Simón mich sah, konnte mich seiner Aura nähern, in seiner Umlaufbahn kreisen. Die Karten, dachte ich. Wenn ich in die Karte eintrete, in der er sich befindet, werden wir uns irgendwann begegnen. So formuliert, hört sich der Gedanke unsinnig an, aber mir schien er unfehlbar. Wenn die Zeit die vierte Dimension des Raums ist, wer weiß, wie viele Dinge, die wir nicht sehen, im Raum der Zeit Platz finden, wie viele unsichtbare Wirklichkeiten. Die Karten sind fast endlos, aber gleichzeitig unvollständig. In Highland Park beispielsweise fehlt der
Eruv
. Es fehlen die Einwohner, die morgen geboren werden. Um Simón zu sehen, musste ich auf eine Karte hinunter- (oder hinauf)gehen, möglichst auf alle Karten. Ich war immer noch in Mexiko-Stadt verankert. Ich stand auf, ging ins Restaurant Sanborns de los Azulejos und begann, sämtlichen Kartographiefirmen der Vereinigten Staaten und Kanadas Briefe zu schreiben. Ich wollte weit weg. Hätte man mir in Hawaii oder in Alaska eine Stelle angeboten, ich hätte zugesagt. Nach zwei Wochen erhielt ich eine Antwort von Hammond. Es war ein Assistentinnenposten im Werk von Maplewood in New Jersey frei.
Es ist spät geworden, tut mir leid, unterbrach ich sie. Das Gespräch hatte mich ermüdet, und ich verstand nicht ganz, was sie mir da erzählte.
Gehen wir, sagte sie. Entschuldige, dass ich dich so lange aufgehalten habe.
Schweigend fuhr ich sie zurück. Die Straßen von Highland Park waren voller Wimpel, die Ballonflüge, Feuerwerk und
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