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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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Gratiseis im Donaldson-Park verhießen. Der hundertzweite Geburtstag des Orts stand vor der Tür.
    Als wir in der North Fourth Avenue anhielten, sahen wir Large Lenny mit großen roten Kerzen, die ihm beim Niederschmelzen die Hände versengten, von einem Gehsteig zum anderen gehen. Er schien immun gegen den Schmerz, und seine Augen fixierten einen Punkt im Nichts. Wie weit er von dieser Welt auch entfernt war, irgendetwas löste einen Tränenstrom bei ihm aus. Das Weinen floss ihm still aus den Augen und gelangte auf einem langen Umweg zur Kinnlade. Ein Trupp Kinder folgte ihm und schoss mit Gummischleudern Steinchen auf ihn. Emilia konnte es nicht ertragen:
    Lasst ihn doch in Frieden, sagte sie. Seht ihr denn nicht, dass er weint?
    Der Riese korrigierte sie:
    Ich weine nicht. Ich vergebe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
    Brauchst du was, Large Lenny?, tröstete ihn Emilia. Soll ich dich nach Hause bringen?
    Das war eine absurde Frage – keiner wusste, wo Large Lenny wohnte. Vermutlich ließ man ihn in einer der Kirchen unterkommen, aber man konnte unmöglich wissen, in welcher, da er sie alle besuchte.
    Ich bin durstig, antwortete er.
    Als wir vor Emilias Haustür angekommen waren, ging sie hinauf, um eine Flasche kaltes Wasser zu holen. Einige Nachbarn spionierten durchs Fenster. In der Ferne hörte ich das Geschrei vom Sportplatz. Die Gymnasiasten mussten beim Fußballspielen sein.
    Mach diese Kerzen aus, Large Lenny, sagte ich. Du ruinierst dir die Hände.
    Sie müssen brennen. Für den Auferstandenen.
    Als Emilia das Wasser brachte, stellte der Riese die Kerzen auf den Gehsteig und trank aus der Flasche. Geräuschvoll gluckerte die Flüssigkeit durch die höhlige Kehle hinunter.
    Large Lenny glaubt, jemand ist auferstanden, sagte der Nachbar vom Erdgeschoss zu Emilia. Er kicherte, und von den anderen Balkonen klang es spöttisch im Chor herunter:
    Wer ist der Tote? Er?
    Ich bin nicht mehr auf der Welt, sagte der Riese. Jemand, der sich verirrt hat, kommt auf die Welt zurück und wird den Weg nicht finden, wenn ihm diese Kerzen nicht den Weg weisen.
    Wo ist denn dieser Jemand, damit wir ihm helfen können, fragte Emilia, um ihm nach dem Mund zu reden.
    Das brauche ich dir nicht zu sagen. Das weißt du besser als ich.
    Er gab ihr die Flasche zurück und entfernte sich Richtung Main Street. Lauthals wiederholte er einige Verse aus dem Lukasevangelium, aber ich achtete nicht mehr auf ihn und fuhr nach Hause.
     
    Nach den Flitterwochen glaubten Simón und Emilia, das Gute – im Sinne Platons – ewig zu besitzen, glaubten das Wesen zu sein, das sich nie von sich entfernen würde, weder in die Vergangenheit noch sonst wohin, doch nie ist etwas so, wie man es erwartet, nicht einmal ist etwas das, was es zu sein scheint.
    Der Fahrer, der sie vom Flughafen abholte, erzählte ihnen, eine Woche zuvor sei Ringo Bonavena in einem Bordell in Reno, Nevada, ermordet worden. Ein einziger Schuss in die Brust habe dem Boxer mit den Plattfüßen, der imponierenden Erscheinung und der Mädchenstimme das Lebenslicht ausgeblasen. Nie mehr werde Ringo »Pio Pio Pa« singen. Ein Killer hat ihn umgelegt, sagte der Fahrer. Stellen Sie sich das vor: Dieser 120 -Kilo-Schrank, der Ron Hicks in der ersten Minute k.o. geschlagen und Cassius Clay fünfzehn Runden lang stehend getrotzt hat, ist wegen eines idiotischen Streits mit dem Bodyguard einer billigen Mamsell gestorben, mit Verlaub, gnä’ Frau. Am Freitag ist die Leiche hergebracht worden, und Sie können sich die Menschenschlange nicht vorstellen, die ihn sehen wollte. Gestern haben sich im Regen Tausende junge Leute versammelt.
    Um halb zehn Uhr vormittags wirkte die Luft schmutzig, dunstblind, nach Desinfektionsmittel riechend. Das Auto fuhr durch die Avenida del Libertador Richtung San Telmo zu ihrer Wohnung, die für Emilia und Simón so unbekannt und unpersönlich war wie ein Hotelzimmer. Bei der Besichtigung hatte sie ihnen mit ihren auf den Parque Lezama hinausgehenden Balkonen so gefallen, dass Dr.Dupuy sie als Hochzeitsgeschenk kaufte und sie nicht einziehen ließ, bis sie möbliert und ausgestattet wäre. Emilias Mutter wählte die Farbe der Wände, Tisch und Stühle fürs Ess- und die Vorhänge im Schlafzimmer, Teppiche, Gläser und Besteck. Simón beharrte darauf, dass sie zumindest ihre Zeichentische aus den Ledigenzimmern, die Lexika und Kartographiehandbücher herbringen konnten, damit ein Restchen ihrer Identität Bestand hätte.
    Die Verzögerung in der

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