Purgatorio
liebe,/Leg deine Hand, Geliebte, auf meine Hand.
Wenn er erwacht, will sie ihm die Szene erzählen. Damals ließen sich die Leute vom Kitsch betäuben, um den allgegenwärtigen Tod zu vergessen. Fliegende Untertassen, Seifenopern, Fußball, Patriotismus – sie würde ihm von all diesen Dingen erzählen, denen auch sie sich hingegeben hatte, arme enttäusche Schiffbrüchige.
Sie steht um fünf Uhr auf, um auf dem Bahnhof New Brunswick den Schnellzug um 5.35 Uhr zu erwischen. Sie macht kein Licht, geht leise aus dem Schlafzimmer und lässt eine hastige Notiz für Simón auf dem Kissen zurück: »Bin zum Frühstück mit dir wieder da. Schlaf gut. Ich liebe dich.« Als sie die Brücke über den Raritan überquert, kann sie den leichten violetten Streifen ausmachen, der sich über dem Meereshorizont erhebt, und stellt sich vor, wie sie selbst durchs Fenster das Nichts betrachtet, wie Mary Ellis. Sie verspürt ein leichtes Unwohlsein in dem Backenzahn, der vor Wochen behandelt wurde, und merkt sich, dass sie noch mal in die Zahnarztpraxis sollte. Am Montag, ganz bestimmt.
Am Montag, wiederholt sie. Auf einmal bricht die Woche mit dem schrecklichen Gewicht des Wirklichen über sie herein. Immer, wenn sie sich von der Gegenwart entfernt, füllt sich die Zeit mit halben Bildern, die vervollständigt sein wollen, und diese Last erschreckt sie. Auf der Straße verkehren weder Pkw noch Lastwagen, die Häuser sind dunkel, und trotzdem genügt die sich über dem Meer abzeichnende Dämmerung, dass das Bewusstsein der Zeit sie quält. Am Montag, sagt sie erneut, am Montag. Als sie Simón im Trudy Tuesday begegnete, kamen ihr die drei Tage des Wochenendes wie eine halbe Ewigkeit vor, doch in diesen ersten Stunden des Samstags verflüchtigt sich jede Sekunde. Sie möchte die Zeit festhalten, mit Eisenringen an der Wand befestigen. Sie hat nicht einmal in Erfahrung zu bringen versucht, ob ihr Mann vielleicht ebenfalls arbeiten muss. Sie weiß nicht, welche Kartographiegesellschaft ihn eingestellt hat, sie hat ihn um keine Adresse, keine Telefonnummer gebeten. Erst jetzt geht ihr auf, dass ihr Glück zerbrechlich ist, dass ihr ganzes Leben an allzu dünnen Fäden hängt.
Der Bahnhof ist leer, und der Zug trifft pünktlich ein wie immer. Ein schwacher Dunst räkelt sich zwischen den Bäumen. Obwohl sich die Blätter gelb und orange färben wie stets im Herbst, verheißen die Unwetter, das plötzliche Tauwetter, die Hitzewellen neue Stürme und Hurrikane. Naturkatastrophen sind der Spiegel dieses Landes, das so viel Hass und Kriege gesät hat, denkt Emilia. In den letzten sechs Jahren ist die Kultur der Vereinigten Staaten um ein halbes Jahrhundert zurückgefallen, in die Dämmernis von Senator Joe McCarthy und von Tricky Nixon. Es lohnt sich nicht mehr, hier zu leben.
In ihrem Waggon befinden sich zwei alte Frauen und ein schwarzer Junge. Kaum lehnen sie den Kopf an die Fensterscheibe, schlafen sie ein. Sie dagegen will, dass jede Sekunde des Tages sie mit weit offenen, in der Anmut des Lebens verhafteten Augen antrifft. Als sie durch Elizabeth fahren, sieht sie die Kirchtürme, die sich in der gräulichen Helligkeit des Morgens einen Weg bahnen, und hat den Eindruck, diese Szene schon einmal erlebt zu haben, obwohl sie den Zug noch nie um diese Zeit genommen hat. Es ist, als wären die schlafenden Alten und der Junge schon immer da gewesen, in dieser Dämmernische, und alles, was ihr in ihren sechzig Jahren widerfahren war, nur eine Vorbereitung auf diesen trivialen Augenblick. Vielleicht bin ich schon gestorben, denkt Emilia, und was ich da sehe, ist meine Hölle oder mein Fegefeuer. Jedes menschliche Wesen, denkt sie, ist dazu verurteilt, auf immer in einem Sekundenbruchteil stehenzubleiben, aus dem es nie wieder herausfinden wird. Sie also ist von der Ewigkeit in diesem Vorortszug erwischt worden, morgens um zehn vor sechs, zusammen mit drei schlafenden Unbekannten.
Im Bahnhof Newark verfliegt dieses Gefühl. Sie muss sich sputen, um den 70 er-Bus zu erreichen, dessen Abfahrt zur Livingston Mall in Springfield unmittelbar bevorsteht. Diese Fahrt, die nicht mehr als eine Viertelstunde dauert, hat sie nur sehr selten gemacht. Die schäbige Vorortslandschaft deprimiert sie, die Traurigkeit der Leute beim Aufstehen, die Einsamkeit der Bäume, die Gewissheit, dass sich hier nie etwas ereignen wird, denn es gibt – sagt sie sich – sinnentleerte Orte, in denen auch nicht das unbedeutendste aller Ereignisse aufkeimen kann. Zu
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