Purgatorio
allem Unglück blockiert bei ihrer Ankunft auch noch eine Beerdigungslimousine die Ausfahrt für ihren Altima. Sie klingelt an der Hammond-Tür, doch niemand öffnet. Es ist Viertel vor sieben, und der Nachtwächter erscheint nicht. Was für eine Rücksichtslosigkeit. Es ist Samstag, und sie läge bei ihrem Mann im Bett, hätte die Überraschung vom Vorabend sie nicht durcheinandergebracht. Sie ist pünktlich aufgetaucht, wie man sie gebeten hat. Immer wieder klingelt sie am Eingang. Als sie sich umwendet, sieht sie einen Riesen im Gehrock aus dem Nichts auftauchen, der gemächlich über den Parkplatz auf die Limousine zuspaziert.
Guten Morgen, grüßt er.
Guten Morgen. Es wird aber auch Zeit, antwortet sie.
Der Riese lässt den Motor des Beerdigungsfahrzeugs an und fährt still davon. Gern hätte ihn Emilia gefragt, was er da mache, aber sie hat sich nicht getraut. Von Kindesbeinen an ist sie den Totendienern aus dem Weg gegangen, und noch immer erschrecken sie sie. Das einzig Wichtige ist, dass sie jetzt freie Bahn hat und zur Route 22 zurückfahren kann. Schnell geht die Herbstsonne auf. Sie hat die Flasche Sauvignon Blanc im Gefrierfach gelassen und den Chicorée mit dem Räucherlachs auf dem gedeckten Tisch. Das Abendessen ist ruiniert, aber das macht nichts. Das Glück, das sie empfindet, fließt durch die Adern, simonistisch, und deckt sämtliche Verluste. Als sie den Himmel kaufte, hat sie die Hölle verkauft. Aber sie muss auf die Erde zurückkommen, um nicht weiter zu verlieren. In ihrem Liebesdelirium hat sie ihren Mann auch nicht gefragt, was er zum Frühstück möchte. Sicher hat er, genau wie sie, am liebsten schwarzen Kaffee und Toast.
Die Stille in der Wohnung der North Fourth Avenue ist abgrundtief. Nicht einmal das erschreckte Zischen der Lampen beim Anknipsen trübt sie.
Bist du wach, mein Schatz?
Sie sieht ihn weder im Schlafzimmer noch in der Küche. Vielleicht hat er das Bett nicht wiedererkannt, in dem er aufgewacht ist, und ist gegangen. Und wenn er sie vergisst? Auch sie verliert manchmal die Erinnerungen an den Vortag, obwohl die an die Kindheit vollkommen intakt sind. Sie hat gelesen, dass einem das im Alter passiert, und sie ist dabei, den Abhang hinunterzukullern – in Kürze wird man ihr bei der Bahn und in Kinos Seniorenrabatt geben –, aber Simón ist knapp dreiunddreißig und hat eine noch unversehrte Erinnerung.
Unter der Badezimmertür ist ein Lichtstreifen sichtbar. Es ist das Licht vom Fenster, das zum Nachbarhaus hinausgeht. Schüchtern ruft sie: Bist du da, Simón? Ihr Mann antwortet ganz selbstverständlich: Ja, ich bin da. Ich hab mich schon gewundert, dass du nicht zurückkommst.
Er trägt den Pyjama, den er auf der Fahrt nach Tucumán mithatte. Offenbar hat er ihn in all den Jahren in seinem Köfferchen verwahrt. Vielleicht möchte er mit ihr nach Menlo Park fahren und neue Kleider kaufen. Sie trällert die Anfangstakte des
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vor sich hin und verspürt ein engelhaftes Glück im Körper, dieselbe Elektrizität wie an ihrem Hochzeitstag. Als Simón die Badezimmertür öffnet, läuft sie hin, um ihn zu küssen.
Das Auto war bei Hammond, sagt sie. Der Nachtwächter hatte recht. Es ist ein wunderschöner Morgen. Lass uns irgendwo hinfahren, mein Liebling, weit weg von dieser Welt.
Simón konzentriert sich auf seinen Schwarzbrottoast und seine Tasse Kaffee. Er streckt die Hand aus und streichelt die Emilias in der Luft.
Hast du schon mal vom ewigen Mittag gehört?, fragt er.
Ja, einmal, vor langer Zeit, sagt sie. Ich habe vergessen, was es bedeutet.
Ich habe es in der geriatrischen Klinik gelernt.
Du warst in einer geriatrischen Klinik?
Sieben Jahre. Ich habe in einer gearbeitet. Das erzähl ich dir ein andermal.
Dass Simón von einem anderen Mal spricht, von einem Tag danach mit ihr, nimmt ihr den Kummer, den ihr die Nachricht von der geriatrischen Klinik verursacht hat. Seit ihre Mutter in eine abgeschoben wurde, die teuerste von allen, hat sie die Erfahrung dieses Geisterreichs nicht vergessen können, wo niemand spricht oder träumt oder existiert.
Eine geriatrische Klinik, wiederholt sie. Sieben Jahre. Ich glaube nicht, dass du einer der Patienten warst.
Ich habe in einem gearbeitet, ich hab’s dir ja eben gesagt. Ich bin zu jung, um Patient zu sein.
Und dort hat man dir vom ewigen Mittag erzählt.
Es war ein Schriftsteller, der mit einer kleinen Schiefertafel in den Höfen auf und ab ging. Er hatte Romane und Erzählbände veröffentlicht
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