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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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und war seinerzeit eine Berühmtheit gewesen, so sagte er wenigstens. Er zeigte die Zeichnung eines Kreises, den eine vom Rand kommende Tangente berührte. Wenn sich die Patienten im Hof sonnten, sagte er zu ihnen: Begleitet mich jetzt in den ewigen Mittag. Er erklärte, der Kreis sei die Zeit, die sich unaufhörlich drehe, und der Berührungspunkt mit der Tangente bedeute die unbewegliche Gegenwart. Unser Blick neigt dazu, das zu sehen, was sich bewegt, aber wenn wir uns einen Moment auf die Betrachtung der Gegenwart fixieren würden, wäre der Mittag ewig. Die Landschaft verändert sich mit dem Lauf der Jahreszeiten, sagte der Schriftsteller, aber das Fenster, in dem sich die Landschaft abzeichnet, ist immer dasselbe.
    Ich glaube, so was habe ich bei Schopenhauer oder Nietzsche gelesen:
Am ewigen Mittag brennt die Sonne unablässig.
    Ich weiß es nicht. Ich kümmerte mich bis zum Sonnenuntergang im Hof um den Schiefertafelmann. Es kam die Nacht, und wir merkten es nicht. Für uns war immer Mittag.
    Habt ihr euch nicht bewegt?
    Wir konnten nicht. Hätten wir uns bewegt, so hätte sich auch die Zeit bewegt.
    Das war eine Qual, nicht wahr?, sagt Emilia. Diese Beharrlichkeit.
    Im Gegenteil. Die Starre war das Leben. Selbst die ewigen Mittage haben ein Ende, so wie das Warten im Fegefeuer. Man bleibt eine Ewigkeit da, aber am anderen Ende der Ewigkeit ist der Himmel.
    Wenn etwas ein Ende hat, ist es nicht ewig.
    Es ist alles eine Frage der Geometrie. Der Schiefertafelmann und ich, wir haben sozusagen die Quadratur des Kreises geschafft. Während sich der Zeitkreis weiterbewegte, gingen wir draußen von Punkt zu Punkt, wie es Zenon lehrt:
Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es sich befindet, noch in dem es sich nicht befindet.
Wir verharrten reglos in der Gegenwart, und zugleich gingen wir weiter. Wir wussten nicht, wohin, und das war das Beste: die Freiheit zu schweben, ohne irgendetwas oder irgendjemanden zu erwarten. Du siehst ja, wo ich gelandet bin.
    Wo?
    Bei dir. Es war eine Rückkehr. Wir könnten jetzt sterben, und es wäre okay.
    Warum? Ich will jetzt nicht sterben.

3
    Da sah ich Geister
durch die Flammen wandeln
Purgatorio
, 25 . Gesang, Vers 124
    O bwohl sich Simón in einigen subtilen, für Leute, die ihn nicht kennen, kaum wahrnehmbaren Einzelheiten verändert hat, liebt Emilia den von damals ebenso wie den heutigen. Es sind beider Lippen, die sie küssen, es ist der Atem beider, der sich, nachdem er sie geküsst hat, in einem gleichen Seufzer entspannt. Ihr Mann bewegt sich umsichtig wie eine Katze, als erwartete er, dass einer der Körper den anderen überhole.
    Ab und zu sind die beiden eins, wie in der Nacht zuvor, als er sie mit einem neuen Ungestüm liebte, oder an diesem Morgen, da er die Geschichte vom Schriftsteller und seiner kleinen Schiefertafel erzählte. Doch dann verstummt er, beobachtet sie und lächelt ihr mit einem fremden Gesicht zu, als müsste er das Lächeln aus weiter Ferne herholen. In diesen Fällen weiß sie nicht, wohin mit der Liebe, die sie für beide empfindet, noch, welchem sie sich zuerst nähern soll. Sie kann verstehen, dass ihr Mann nach so vielen Jahren nicht mehr derselbe ist. Aber es beunruhigt sie, dass sich der von vorher ins Wesen dieses anderen hat zurückziehen müssen, den sie noch gar nicht ganz kennt. Der Simón, der sie verwirrt, vermag ihre Wünsche zu erraten, nimmt ihre Gedanken vorweg und kennt die Sehnsüchte ihres Körpers viel besser als der erste. Einer der beiden ist die Kehrseite des anderen oder umgekehrt, und sie mag sich nicht entscheiden. Der Zufall hat ihr unerwartete Geschenke beschert, und sie hat keine Veranlassung, die geringzuschätzen, die da noch kommen mögen. Zum Ausgleich für alles Erlittene verdient sie sämtliche Geschenke. Und zuallererst verdient sie die Liebe ihres Mannes der Vergangenheit und die Wonnen, die sie mit dem eben erst aus der Gegenwart gekommenen entdeckt hat. Ich bin glücklich, sagt sie sich. Sie getraut sich nicht, das laut zu wiederholen, da die glückliche Liebe Neid anzieht, und auf den Neid folgt Unglück.
    Sie lässt Simón von einem Musikfetzen zum nächsten hüpfen, von Mozarts sublimer c-Moll-Messe zu der idiotischen Melodie von Frankie Valli, die auf dem Flitterwochendampfer Tag und Nacht zu hören war, »Can’t Take My Eyes Off You«, und geht unter die Dusche. Als sie im Morgengrauen mit dem Altima von Hammond hergefahren war, hatte sie sich daran erinnert, dass beidseits des Flusses

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