Purgatorio

passiert, wenn sie wirklich Krebs hat?
    Mach dir doch jetzt noch keine unnötigen Sorgen. Ich hab dir ja gesagt, du kannst beruhigt sein.
    Wie soll ich Ruhe bewahren? Siehst du denn nicht, dass sie meine Hochzeit untergraben will? Seit Monaten spielt sie die Kranke und gibt Obszönitäten von sich.
    Dann scher du dich ruhig um deine Angelegenheiten. Mich stört sie nicht. Ich werde mich um sie kümmern.
    Als Dr.Dupuy zwei Tage später von seiner Reise zurückkehrte, zeigten die Untersuchungen bereits einen Darmtumor. Aber es war Glück im Unglück, wie einer der Ärzte sagte, denn man konnte keine Anzeichen von Metastasen finden. Unter den Laken zeichnete sich der knochig-blasse Körper der Mutter kaum ab. Sie hatte Kanülen in der Nase und wurde an der einen Hand auf die übliche Art intravenös ernährt. Gegen Mitternacht hörte es auf zu regnen, und im Summen dicker Schmeißfliegen und dem Welken übel riechender Blumen begann sich träge die Luft zu bewegen. Ein Feuchtigkeitsfilm überzog den Gang, und Emilia sah, wie sich hinter den Krankenschwestern deutlich ihre Fußspuren abzeichneten. Der Vater unterhielt sich eine halbe Stunde mit den Ärzten und zog sich dann in eine Telefonzelle zurück. Als er herauskam, stand sein Entschluss fest.
    Den Töchtern verkündete er ihn erst am nächsten Tag. Er zitierte sie in sein Arbeitszimmer, wo er ihnen nur in ganz besonderen Fällen Zutritt gewährte. Er zog die Vorhänge zu und vergewisserte sich, dass die Tür abgeschlossen war. Chela war ebenso verwirrt wie Emilia und setzte sich auf die Sesselkante, als wäre sie auf dem Sprung. Es war immer ein düsterer Raum gewesen, jetzt aber war er es noch mehr. Die völlig bücherlosen Wände waren zugedeckt von den in langen Jahren ergebenen Dienstes am Vaterland angesammelten Diplomen und Auszeichnungen. Der Doktor sprach mit so gedämpfter, geheimnisvoller Stimme, dass sie sich beinahe in Luft aufzulösen schien. Seit sie kleine Mädchen waren, wussten die beiden Töchter, dass alles, was der Vater sagte oder tat, ein Geheimnis war, und kommentierten es nicht einmal untereinander. Somit war es unnötig, sie um Diskretion zu bitten, doch genau das tat Dupuy. Ja, er ging noch weiter und zwang sie zu schwören, dass sie niemals erzählen würden, was sie an diesem und den schwierigen kommenden Tagen hören würden, niemandem, niemandem, und auch du deinem Verlobten nicht, Chelita, noch deinem Mann, wenn er es dann ist, nicht einmal dem Priester, bei dem sie beichteten. Emilia befürchtete das Schlimmste. Sie befürchtete – auch wenn sie es nicht einmal zu denken wagte –, der Vater habe beschlossen, die Mutter umbringen zu lassen, aus Mitleid oder was auch immer, und werde sie um ihr geheimes Einverständnis zu dem Verbrechen bitten. Mit dem bisschen Stimme, das sie aufbrachte, fragte sie: Du wirst uns doch nicht eine Sünde erzählen, Papa? Denn wenn es eine Sünde ist, müssen wir sie beichten. Wie kommst du denn darauf?, antwortete der Vater. Ich bin Katholik, gehorche den Gesetzen Gottes und würde niemals die heiligmachende Gnade aufs Spiel setzen.
    Er rückte den Sessel näher an den Schreibtisch und sprach weiter, den Kopf dem Fenster zugewandt, als glaubte er, bis dahin, bis in den Garten könnte das Ohr der Feinde reichen. Emilia wusste nie, welche Feinde der Vater meinte – denn einmal waren es die Stadtguerilleros und die Revolutionäre Volksarmee und dann, da diese bereits ausgerottet worden waren, die Brigaden eines Admirals, der gegen den Aal konspirierte, oder eine Gesandtschaft der amerikanischen Regierung oder Pinochet, der in die Inseln des Beagle-Kanals einzufallen drohte, oder die korrupten Vermittler, die die Atomkraftwerke lahmlegten. Wenn sich die einen zurückzogen, gewannen die anderen an Terrain, und manchmal zog sich auch gar keiner zurück.
    Gestern Abend habe ich untersagt, dass Ethel operiert wird, sagte er. Es wäre ein Blutbad geworden. Ich habe Dr.Erich Schroeder angerufen, und er hat mir eine erstklassige Lösung angeboten. Ich werde Ethel aus der Klinik rausholen, damit sie sich Schroeders Behandlung unterzieht.
    Entschuldige, aber ich verstehe nicht, warum das für Mama besser wäre. Wer ist Schroeder?, fragte Emilia. Ich habe den Namen noch nie gehört.
    Er ist eine weltbekannte Koryphäe. Du hast seinen Namen noch nie gehört, weil er nur ganz wenige auserwählte Kranke behandelt, mit hundertprozentigem Erfolg. Seit über zwanzig Jahren lebt er absolut geheim hier und hat einen