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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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Unannehmlichkeiten nicht schwach machen.
    Sie haben mit jedem Tag den größeren Durchblick, Dupuy. Das kann man in Ihren Kolumnen sehen. Alle Achtung. Was Sie über die Juden geschrieben haben, die Patagonien beanspruchen, hat mir sehr gefallen. Sie haben sie entlarvt und auf diplomatische Art Tacheles mit ihnen geredet. Man muss ihnen zeigen, dass sie nicht die Herren der Welt sind.
    Die Mutter richtete sich im Bett auf. Emilia hatte den Eindruck, sie habe sie gehört. Ein einzelnes Wort löste eine Erinnerung in ihr aus, und die Erinnerung löste weitere Worte aus. Der Mutter entrang sich ein blökendes Jammern. Dann sang sie ohne Übergang mit misstönender Stimme:
Leshana haba’a bijrushalajim.
    Was ist das denn?, fragte der Präsident alarmiert. Ethel spricht Jüdisch?
    Nein, Señor, sagte Dupuy, ich glaube, sie singt »Nächstes Jahr in Jerusalem«. Das ist Hebräisch. Sie muss es wohl als kleines Mädchen gehört haben, neben ihrem Haus wohnte eine jüdische Familie. Die Dinge aus der Kindheit – das ist das Einzige, woran sie sich erinnert. Meine Töchter und ich tun so, als wäre sie wieder fünf Jahre alt.
    Emilia blieb ein paar Monate im Haus und umsorgte die Mutter. Während des Schlafens achtete sie auf ihren unregelmäßigen Atem und das zaghafte Katzenjammern. Mehrmals stand sie nachts auf, um ihre Temperatur zu messen und sie ins Bad zu begleiten. Die Mutter behandelte sie immer wie eine Außenstehende, eine der Personen aus den Erzählungen, die sie in
Maribel
und
Vosotras
las, oder irgendeine Spielgefährtin.
    Oh, wie schön, wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen, begrüßte sie sie, wenn sie sie hereinkommen sah, obwohl die Tochter erst vor wenigen Minuten hinausgegangen war. Sie musste sich bestens unterhalten, erschienen doch nie zweimal dieselben Menschen.
    Am nächsten Sonntag kam die Frau des Aals mit einem Geschenk in Form einer Medaille der heiligen Dympna, Schutzherrin der geistig Verwirrten. Der Bischof hatte sie mit einer Sammlung prächtiger Heiligenbildchen vom Vatikan mitgebracht. Der Papst empfahl diese Heilige ganz besonders, da nachgewiesene Wunder in Belgien und Afrika für sie bürgten. Dympna hat eine glückliche Hand bei Menschen, die an Halluzinationen leiden, hatte der Bischof gesagt und sich bei den Konsonanten verschluckt. Wenige Gläubige kennen sie, denn die Krankheiten, die diese kleine Frau heilte, waren vor der Psychoanalyse sehr selten. Der Papst persönlich hat verlangt, dass allabendlich eine Kerze angezündet und der Dympna zehn AveMaria gebetet werden sollen, damit sie die Kranke vom Paradies aus untersuchen und segnen kann.
    Es verging der Sommer, der Herbst, und die Mutter kehrte nicht in die Wirklichkeit zurück. Emilia rührte sich nicht vom Nebenbett weg. Sie ertrug das Fernsehen nicht mehr, aber die Ärzte dachten, es könnte sie stimulieren, wenn man sie mit der Außenwelt in Berührung bringe. Gemeinsam trotzten sie toxischen Mengen von täglich sieben bis zehn Stunden: die Mittagessen mit Mirtha Legrand, die glückliche Welt der Familie Ingalls, die Heldentaten der Wonder Woman und der Sieben-Millionen-Dollar-Frau. Die Abendnachrichten wiederholten Aufnahmen des pomadisierten Aals und seiner uniformierten Trabanten. Wie aus einem Mund erklärten sie, Argentinien entfessle einen erbarmungslosen Krieg gegen die Feinde des christlichen Westens und Gott schütze die blauweiße Fahne gegen das blutige rote Tuch des Kommunismus. Dann wurde eine Bekanntmachung eingespielt, die schon eher ein Befehl war: Argentinier – auf zum Sieg!
    Tag und Nacht vorm Fernseher zu sitzen verbrennt mir das Hirn, sagte Emilia zu den Ärzten. Ich schlafe nicht mehr gut, habe Halluzinationen. Man verschrieb ihr ein Beruhigungsmittel. Allmählich dachte sie, so viele Gebete für die heilige Dympna könnten sich auch kontraproduktiv auswirken, wie es bei einigen Medikamenten der Fall ist. Jeden Morgen fiel ihr das Aufstehen schwerer, sie spürte, dass sich ihr Körper wie eine Pflanze auftat und dass die Spinnen sie mit ihren schmierigen Netzen vom einen zum anderen Ästchen überzogen. Wenn die Mutter schlief, kehrte die Erinnerung an Simón wieder, doch Emilia überschritt nie die Grenzen zu seinem Körper; sie gelangte bis zum Eingang und wich zurück, als wäre sein Körper ein verfluchtes Haus. Sie versuchte, die Erinnerung zurückzubehalten, und schrieb in das stets griffbereit daliegende Notizheft: »Ich denke an S, und der Hals tut mir weh, die Brust tut mir weh,

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