Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
daraufhin die Rezeptur verändert. Doch erst als ihm jemand ein paar tiefrote Wollfäden zeigte, die versehentlich seit Tagen auf dem Abfallhaufen gelegen hatten, hatte er verstanden: Die Magie des Färbens begann während des Trocknens, das war anscheinend das eigentliche Geheimnis des Purpurs!
Sofort begannen die Arbeiten von Neuem. Sollte man das Färbegut in der prallen Sonne trocknen oder besser im lichten Schatten, fragte sich der Alte. Benötigte man Sonne oder genügte Luft? Was geschah, wenn man es ausschließlich nachts an die Luft brachte? Und wie lange dauerte es, bis unter dem unansehnlichen Gelbgrün das ersehnte Rot hervorbrach? Offenbar hatten seine Versuche nun endlich zu einem Ergebnis geführt, das den Sherif befriedigte. Mirijam hingegen erschauerte. Ein sanftes Blau oder ein helles Grün, Sonnengelb oder Rosa, sogar Rostbraun oder Nebelgrau, das waren Farben, die ihr gefielen, aber dieses Rot? In ihren Augen wirkte es geradezu bedrohlich.
Luft, dachte, sie musste hier raus, am besten an den Strand!
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Sie trat gegen ein Büschel aus trockenem Tang. Es fiel sofort auseinander. Jede Menge Sand und Muscheln klebten an den braunen Pflanzenresten, darunter leere Gehäuse von Purpurschnecken. Schon wieder, dachte sie und stampfte auf den leeren Schneckenhäusern herum, überall nichts als Purpurschnecken! Mirijam sank nieder, wo sie gerade stand, und wischte ein paar Tränen fort.
Was, um Himmels willen, war nur mit ihr los? Vermutlich wurde sie krank. Eigentlich fehlte ihr zwar nichts, aber womit ließ sich das Durcheinander in ihrem Kopf und ihrem Herzen sonst erklären?
Schon seit Tagen träumte sie wirres Zeug, Szenen, an die sie sich am nächsten Morgen nicht richtig erinnern konnte. Da waren lediglich ein paar Fetzen: Gesa im Garten bei der Apfelernte … dampfende Rösser vor schweren Lastkarren … eine Frau, die sie im Arm hielt, offenbar ihre Mutter … neblige Wiesen am Fluss … Vater, der den Blick von seinen Geschäftsbüchern hob – und Cornelisz. Bilder aus ihrer Kinderzeit, die sich irgendwo in einem versteckten Winkel ihres Herzes eingebrannt hatten und nun hervorkamen, um sie zu quälen.
Mirijam sprang auf und lief weiter den Strand entlang.
Von Cornelisz hatte sie in letzter Zeit wieder häufiger geträumt. Weil sie immer noch oft an ihn denken musste, an den Vertrauten, den Gefährten sorgloser Jahre? Cornelisz, der mit ihr sang und lachte, der ihr das Murmelspiel beibrachte und ihr Pony einfing, wenn es durchging. Cornelisz, der ihr das Zaunkönignest in der Hecke zeigte, der ihr die süßesten Kirschen zusteckte, der sie tröstete, als sie von einer Wespe gestochen wurde … Und Cornelisz, wie er versprach, immer ihr Freund zu sein. Sein helles Haar hatte im Sonnenlicht geleuchtet wie Gold. Dachte sie an ihn, weil er sie liebte und jede ihrer Regungen verstand? » Unsinn!«, schimpfte sie laut. » Alberne Kindereien!« Sie sammelte einige Muschelschalen und Steine auf und warf sie in hohem Bogen ins Wasser.
Und die Frau, von der sie geträumt hatte, konnte es wirklich sein, dass dies ihre Mutter war? Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Sie glaubte, sich an eine dunkelhaarige Frau zu erinnern, die die Arme nach ihr ausstreckte und sie zärtlich anlächelte. Im Traum hatte sie gewusst, dass es ihre Mutter war. Aber wie war das möglich? Sie war viel zu klein gewesen, als die Mutter starb. Erschien sie ihr jetzt im Schlaf? Warum? Um sie vor einer Gefahr zu warnen oder um sie zu trösten?
Grübelnd stapfte sie durch den Sand. Nach einer Weile sah Mirijam auf und erblickte die weiße Kuppel des kleinen Grabmals von Sîdi Kaouki, eines Heiligen, der an dieser Küste verehrt wurde. Getrieben von ihrer Unrast war sie viel weiter gelaufen als gedacht, die lang gestreckte Bucht mitsamt der Mündung des Baches lagen längst hinter ihr. Von den Hafenanlagen war ebenfalls nichts mehr zu sehen, und sogar das Fort der Portugiesen lugte nur noch schemenhaft über den Salznebeln hervor, die der Wind in dichten Schwaden landeinwärts trieb. Sie seufzte, und obwohl sie am liebsten hier draußen geblieben wäre, kehrte sie um.
Im seichten Wasser des Baches, der an dieser Stelle ins Meer mündete, setzte sich Mirijam auf einen Stein, wusch Gesicht und Hände und richtete ihr Gewand. Vielleicht war ihr die Mutter im Traum erschienen, weil sie wollte, dass sie das Päckchen öffnete, überlegte sie. Eine seltsame Scheu hatte sie bisher davor zurückgehalten. Manchmal holte sie das schmale
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